Stumme Zeugen
und Tom Boyd an Swanns Schweine verfüttert, was die Analyse des Schweinekots bestätigt habe. Dann dankte er Jess erneut, dass er ihn vor dem gleichen Schicksal bewahrt habe. Und wiederholte, wie sehr er es bewundere, dass Jess nur auf einen Berg zu blicken brauche und gleich die passende Story parat habe.
Laura Hearne, Jims Frau, besuchte Jess und hatte die mit rawlins beschriftete Akte ihres Mannes dabei. Sie sagte, sie
wisse, dass das ungewisse Schicksal von Jess’ Ranch Jim große Sorgen gemacht habe. Sie sei es dem Andenken ihres Mannes schuldig, zu Ende zu bringen, was er begonnen habe, und sie habe sich kundig gemacht. Ihr Plan sah vor, dem Bundesstaat Idaho die Ranch als Schenkung zu überlassen, unter der Auflage, dass sie nicht zerstückelt wurde.
»Der arme Jim«, sagte Jess. »Er fehlt mir.«
Sie musste gegen Tränen ankämpfen, weinte aber nicht. Laura Hearne war eine unsentimentale, in die Jahre gekommene Frau. Menschen vom Land waren eher als Städter an den Zyklus von Leben und Tod gewöhnt, sie beobachteten ihn in ihrer Umgebung Tag für Tag.
»Mir fehlt er auch.« Sie blickte Jess in die Augen. »Von der Geschichte mit Monica habe ich die ganze Zeit gewusst, obwohl er es mir nie erzählt hat. Es war nicht nötig. Ich habe ihm schon vor Jahren verziehen, es ihm aber nie gesagt. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan.«
Jess nickte und dachte, wie sehr es Hearne gefallen hätte, ihre Worte zu hören. Er hoffte, dass er es jetzt wusste.
Die Idee mit der Schenkung gefalle ihm nicht, sagte Jess, er habe eine bessere. Als er ihr von seinem Plan erzählte, antwortete sie mit einem diabolischen Grinsen und versicherte, sie werde ihm helfen, weil Jim es so gewollt hätte.
»Ich wünschte nur, er wäre nicht mit diesem Schuldgefühl gestorben«, sagte sie später. »Das nagt an mir.«
»Am Ende war er mit sich selbst im Reinen«, antwortete Jess. »Jim hat das Richtige getan, und er saß wieder auf einem Pferd. Er hat mir erzählt, wie sehr er seine Frau liebt.«
Er sagte nicht, wann Hearne es ihm erzählt hatte.
Diesmal weinte sie.
Als Jess aufwachte, war sein Kopf klar wie nie, seit er ins Krankenhaus eingeliefert worden war - wann immer das gewesen sein mochte. Der Schmerz war einfach verschwunden. Komplett, kein sonderbares Gefühl in der Brust. Er drehte den Kopf zur Seite. Sonnenlicht strömte durchs Fenster und wärmte sein Gesicht. Das Krankenzimmer war voller Blumen. Wahrscheinlich träumte er deshalb ständig, er wäre in einem Garten.
Auf dem Stuhl neben dem Bett saß Annie.
»Müsstest du nicht in der Schule sein?«, fragte er.
Annie blickte auf. Irgendwie wirkte sie älter. Ernster.
»Sind Sie’s wirklich?«, fragte sie.
»Ja.«
»Es ist schwer zu sagen. Manchmal sind Sie da, dann wieder nicht.«
»Ich bin da. Zumindest glaube ich es.« Er fühlte die Wärme der Sonnenstrahlen. Sie schien real zu sein, wie die Abwesenheit der Schmerzen.
»Seit zwei Wochen kommen wir jeden Tag her«, sagte Annie. »Meine Mutter bringt uns nach der Schule.«
»Zwei Wochen. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Dann haben wir jetzt Mai.«
»Genau.«
Er versuchte, die Tage Revue passieren zu lassen, doch es war unmöglich, sie auseinanderzuhalten. Aber einiges wusste er, denn er erinnerte sich an Gesichter, Besuche, Worte von Menschen, von Lebenden und Toten. Vielleicht würde sich der Nebel lichten, wenn er wieder zu Kräften gekommen war.
Annie warf einen Blick zur Tür, stand auf und beugte sich
zu ihm herab. »Mrs Hearne hat uns von Ihrer Entscheidung erzählt.«
Jess zog eine Hand unter der Decke hervor und streckte sie nach ihr aus. Er war geschockt, wie dürr sein Arm aussah, wie knorrig und alt seine Finger wirkten. Trotzdem ergriff er ihre Hand. Sie schien nichts dagegen zu haben. »Wie denkt deine Mutter darüber?«, fragte er lächelnd.
»Sie kann es nicht fassen.«
Er lachte laut und rechnete damit, dass der Schmerz zurückkommen würde. »Es tat weh, wenn ich gelacht habe. Jetzt ist es vorbei.«
»Warum haben Sie es getan?«, fragte Annie energisch.
»Weil du mit der Aufgabe klarkommen wirst«, antwortete er. »Du wirst dich gut schlagen.«
Sie nickte. Das sah sie auch so.
»Dann sind wir also einer Meinung.«
»Annie.« Monica betrat das Zimmer, mit gerötetem Gesicht. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Aber Sie kennen Annie.« Monica schaute zu ihrer Tochter hinüber, die sie anlächelte.
Jess blickte zur Tür. Es war ein gutes Gefühl, Monica wiederzusehen.
»Sie
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