Stunde der Klesh
aus seinem Mund. Es waren wirre, unverständliche Rufe. Jetzt wurden seine Bewegungen heftiger, Schaum trat in seine Mundwinkel. Meure fühlte sich elend. Was war mit Halander geschehen? Plötzlich wurden Halanders Gesichtszüge ganz ruhig. Ein erstaunter, neugieriger Ausdruck trat in seine Augen. Interessiert betrachtete er die Wasseroberfläche. Dann war sein Kopf verschwunden, ein paar Ringe kräuselten sich an der Stelle, wo er vor einem Augenblick gewesen war. Im Wasser sah man eine kurze, verschwommene Bewegung, dann war alles still.
Meure atmete schwer vor Entsetzen. Ein Gefährte wurde zum Feind und verschwand – und das alles geschah in ein paar Minuten und ohne einen erkennbaren Grund …
Seine Hände schmerzten von dem Griff, mit dem er das Geländer umklammert hatte. Er trat von der Reling zurück, und sein Blick traf Flerdistar, die ihn anstarrte, als sähe sie ihn zum erstenmal. Tenguft hockte noch immer auf ihrem Platz, doch jetzt deutete sie mit einer ausgreifenden Geste auf ihre Umgebung und rief: „Seht, ein Omen. Das Trübe hat die Farbe des Blutes!“
Es war so, wie sie sagte. Meure beobachtete, wie das Licht der aufgehenden Sonnen die Nebelbänke über dem Fluß rostrot einfärbte. In waagerechten Dunststreifen hob sich der Nebel von der Wasseroberfläche ab, stieg empor und verwehte. Klares Tageslicht umfing sie. Erstaunt betrachtete Meure die Umgebung, die sich nun ihren Blicken bot: Das treibende Boot glitt an einer Stadt vorüber, die sich erstreckte, so weit das Auge reichte. Niedrige Reihen aus roh zusammengezimmerten Hütten wurden von engen, schmutzigen Gassen durchzogen. Träger Rauch stieg aus unzähligen Kaminen auf und sammelte sich über den Hütten zu einer schmutzig-schweren Dunstglocke. Wohin sie auch schauten, der Anblick war immer der gleiche. Bis zum Horizont erstreckte sich dieses armselige Gewirr. Es war wie ein Alptraum in einem schrecklichen Drogenrausch. Hier war eine riesige Stadt aus einer Armut gewachsen, die bedrückender war als alles, was Meure bis dahin in seinem Leben erblickt hatte.
Tengufts Stimme erklang wie die eines Ausrufers: „Hier seht ihr Yastian, die Stadt der Lagostomer. Seht sie euch an, dann werdet ihr verstehen, warum die Haydars das weite Land vorziehen.“
Meure spürte die Anwesenheit Cretus’, aber es war nur eine leichte Berührung. Er schaute sich um, durch Meures Augen. Cretus’ Empfindung war bestürzender als seine eigene. Cretus war völlig fassungslos, abgestoßen von der riesigen, stinkenden Stadt, die da vor ihnen lag. Er war zutiefst angewidert. Zum erstenmal erlebte es Meure, daß Cretus so verwirrt war und nicht wußte, was weiter geschehen sollte. Cretus zog sich in das Dunkel zurück.
Meure spürte, wie Cretus versank. Er fühlte sich unbeobachtet und hatte keine Scheu, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen: Wie lächerlich ist es doch, von einem Geist besessen zu sein, der es nicht erträgt, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Der uns zu einem Ziel führt, dessen Anblick er nicht erträgt. Noch nie in seinem Leben hatte Meure eine Enttäuschung gespürt, die so tief und so bitter war. Daß in der schrecklichen Erkenntnis, die er im Anblick Yastians hatte, zugleich eine Lösung verborgen war, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen.
12
„Vitriol: Schwefelsäure, H 2 SO 4 .“
„VITRIOL: Visita interiora terrae, rectificando invenies occultum lapidem: Suche die innersten Orte der Erde auf, tue es recht, und du wirst den verborgenen Stein finden. Der Lapis oder Stein der Weisen ist das wahre Selbst, das nur gefunden werden kann, wenn der Sucher seine Einstellung ändert und in seinem Inneren sucht. “
A.C.
Zur Zeit trieb die Barke weiter auf dem Hauptarm des Flusses. Doch offenbar hatte sich das Flußbett in der Zwischenzeit zu einem Netz von Nebenarmen und Kanälen verzweigt, denn Meure sah immer wieder Masten und zusammengebundene Segel hinter den Häuserreihen am Ufer. Überall waren Gestalten zu sehen, die ihren Tätigkeiten nachgingen, allerdings lag keine Eile in ihren Bewegungen. Lastenträger schritten müde an den Uferbefestigungen entlang, und in einiger Entfernung zogen ein paar kleine Ruderboote gemächlich ihre Bahn. Niemand nahm von der treibenden Barke Notiz, aber Meure hatte dennoch das Gefühl, daß sie beobachtet wurden. Meure erzählte Morgin von diesem Gefühl. Er hatte inzwischen erfahren, daß Morgin weit in Monsalvat herumgekommen war und auch Yastian schon oft aufgesucht
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