Stunde der Vergeltung (German Edition)
Ozean abfiel. Hohe Koniferen verdunkelten die von Nebelfetzen umspukte Bergflanke. Der Wind peitschte weiße Schaumwogen über den breiten, hellen Strand. Der Anblick war von dramatischer Schönheit, wie es sich für das Heim einer Frau wie Tam gehörte.
Je mehr er sich ihr näherte, desto schlimmer wurde das Ziehen in seiner Brust.
War ihr zärtliches Intermezzo in dem Hotelzimmer in San Vito nur eine Fantasie gewesen, die er auf sie projiziert hatte? Da war etwas in ihren Augen gewesen, das das Wesen seiner Existenz verändert hatte. Seine Seele war erwacht, zusammen mit seinem Herzen, seinem Kopf und anderen Teilen, die er nicht einmal zu benennen wusste. Sie waren aus einem todesartigen Schlaf auferstanden, und jetzt ließen sie ihm keinen Frieden.
War es real gewesen, dieses halb Erinnerte »Ich liebe dich«?
Das Garagentor war geöffnet, als er davor anhielt. Eine junge, rot gelockte Frau, die ein zappelndes Baby im Arm hielt, wartete auf ihn. Der Name fiel ihm sofort wieder ein: Margot McCloud. Davys Frau. Sie lächelte nicht.
Val hätte in zehn verschiedenen Sprachen ein höfliches Gespräch mit ihr anfangen können, stattdessen stand er einfach nur da und versuchte, den trockenen Kloß in seiner Kehle hinunterzuwürgen.
»Ist sie hier?«, fragte er, als es ihm endlich gelang.
Margot schaukelte ihr Baby, dabei musterte sie ihn ernst. »Ja. Sie arbeitet. In ihrem Atelier.«
Ihn verließ der Mut. »Also weiß sie noch nicht, dass ich hier bin?«
Sie schüttelte den Kopf, dass ihre roten Locken wild nach allen Seiten flogen. »Nein, noch nicht. Sie arbeitet gerade, dabei hört sie immer über Kopfhörer laute Musik. Kommen Sie mit.«
Er folgte ihr durch einen Sicherheitsraum, der mit dem allerneuesten Überwachungsgerät ausgestattet war, allerdings schien ein Großteil davon abgeschaltet zu sein. Ein Gewirr aus losen Elektrokabeln lag überall herum.
Am oberen Treppenabsatz angekommen, blickte er sich fasziniert um. Tams Wohnbereich sah exakt so aus, wie er es erwartet hätte: minimalistisch, streng und dennoch dezent opulent. Überall klare Linien, nur die Maserung der hellen Holzvertäfelung zeigte ein sinnliches Wirbelmuster. Jedes der gigantischen dreieckigen Fenster bot eine unglaubliche Aussicht. Er hatte sie nie zuvor gesehen, trotzdem kam es ihm vor, als würde er die Umgebung wiedererkennen. Genau wie Tam war sie kompromisslos, schroff und wunderschön.
Val passierte ein Zimmer, in dem eine ungewöhnliche Farbenvielfalt herrschte. Er entdeckte Spielsachen, Bücher, Mobiles, Bilder. Ein kleines Persönchen kam herausgerannt und kollidierte mit seinen Beinen.
»Val! Val!«, krähte Rachel und klammerte sich an seinem Schenkel fest.
Er freute sich über ihre warme Begrüßung und registrierte überrascht, welche tiefe Zärtlichkeit für das kleine Mädchen plötzlich in ihm aufwallte. Er nahm Rachel hoch und barg das Gesicht ein paar Sekunden lang an ihrem Lockenkopf, bis das verwirrende, nebulöse Gefühl abflaute. »Hallo, kleine Prinzessin«, flüsterte er.
Eine untersetzte ältere Frau mit grau meliertem Dutt blieb auf der Türschwelle stehen und beäugte ihn mit unverhohlener Neugier. Das musste Rosalia sein.
»Rachel und ich sind alte Freunde, Senhora«, erklärte er auf Portugiesisch und küsste Rachel auf den Scheitel.
Rosalia reagierte entzückt. »Ach! Dann sind Sie dieser Val, von dem hier alle erzählen?« Sie bedachte Margot mit einem hocherfreuten Blick und einem vielsagenden Zwinkern. »Das ist gut! Gehen Sie zu ihr, um mit ihr zu sprechen. Sie ist furchtbar traurig. Sie kann ein wenig Aufmunterung von einem hübschen jungen Mann wie Ihnen gebrauchen.«
Das bleibt abzuwarten, dachte Val betrübt. Er übergab Rachel an Rosalia und dämpfte ihren Protest mit dem Versprechen, später wiederzukommen und mit ihr zu spielen. Er hoffte nur, dass er es würde einhalten können.
»Kommen Sie. Ich zeige Ihnen den Weg«, sagte Margot.
Val ließ Rachels lautstarkes Gemecker hinter sich zurück und folgte Margot den Gang entlang. Sie stiegen eine Wendeltreppe hoch. Jede Zelle seines Körpers schlotterte vor Angst und böser Vorahnung, darum suchte er das Gespräch, nur um sich von diesem Gefühl abzulenken. »Wie ist es ihr ergangen?«
Margot warf einen Blick über ihre Schulter zurück. »Hm. Meiner Ansicht nach nicht so gut. Sie sollten sie besser selbst fragen. Wir quartieren uns abwechselnd hier bei ihr ein, um sie im Auge zu behalten, und bisher fehlte Tam die Energie, uns vor
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