Stunde der Vergeltung (German Edition)
stürzte.
30
Cray’s Cove, fünf Wochen später …
Val hielt mit dem Motorrad an der Straße, die zu Tams Haus führte. Sie hatte sich verändert, seit er sie zuletzt befahren hatte. Es war nun wirklich eine Straße, kein getarnter Feldweg mehr. Die Zufahrt war frisch geteert. An einem schlichten weiß getünchten Pfosten hing ein großer, glänzender silberner Briefkasten, auf den in schwarzen Blockbuchstaben STEELE graviert war. Daneben gab es eine Plastikbox für den Washingtonian und eine zweite für die Regionalzeitung.
Für einen Moment verlor er die Orientierung und misstraute plötzlich seinem eigenen, dick gepanzerten, mit Stahlnieten verstärkten Gedächtnis – aber nur für einen Moment. Er kannte die Breiten- und Längengradkoordinaten von Tams physischer Präsenz auf dieser Erde ganz exakt, seit er von ihrer Existenz erfahren hatte. Er konnte sich diesbezüglich nicht täuschen. Leise fluchend jagte er den Motor wieder hoch.
Val hatte Angst nach diesen endlosen Wochen unerklärlichen Schweigens. Er traute sich nicht, dieses Schweigen zu deuten. Er fürchtete sich so sehr, dass er kaum essen oder atmen konnte.
Es war typisch für Tam, einen Mann zappeln zu lassen, trotzdem kam es ihm jetzt, nachdem er wochenlang mit dem Tod gerungen hatte, besonders grausam vor, dass sie ihn mit seinen Zweifeln und Fragen allein ließ. Sollte er auf sie zugehen? War es besser zu warten?
Aber er konnte nicht ewig warten. Es brachte ihn um. Er musste es wissen.
Abgesehen davon kannte er Tam. Sie mochte Stärke und brauchte sie. Er musste stark sein. Die Furcht schwächte ihn, also musste er furchtlos sein.
Eine echte Herausforderung. Trotzdem würde er es mit aller Macht versuchen.
Die Zweifel nagten an ihm, machten ihn mürbe. Tam hatte nie wirklich gesagt, dass sie ihn liebte, mit Ausnahme dieses einen Mals, an das er sich wie an einen Traum erinnerte, als sie ihn in dem agriturismo mit den Handschellen ans Bett gefesselt und betäubt hatte. Und selbst das war womöglich nur eine chemisch bedingte Illusion gewesen. Ungewiss in jeder Hinsicht.
Nachdem Val sie und Rachel gerettet hatte, hatte er gehofft, sich damit Pluspunkte bei ihr verdient zu haben, aber offensichtlich war das ein Trugschluss gewesen. Tam hatte ihn seitdem vollkommen ignoriert.
Vor dem elektrischen Tor bremste er ab. Darüber war eine Videokamera angebracht. Er drückte auf den Klingelknopf und wartete.
Dieses schlichte Tor war kein Vergleich zu dem hochtechnisierten, als baufällige Scheune getarnten Einlass, der früher hier gestanden hatte. Tam hatte ihre gesamte ultramoderne Sicherheitsanlage abreißen lassen und durch ein schlichtes Alarmsystem ersetzt. Mit anderen Worten: Sie hatte ihre Deckung aufgegeben.
Val fragte sich, was dieser Stimmungswandel für ihn bedeuten mochte. Er hoffte auf eine gute Nachricht, gleichzeitig wagte er nicht zu spekulieren.
Niemand erhörte sein Klingeln, aber davon wollte er sich nicht abhalten lassen. Er war bereit, sich allem zu stellen, sogar einer geladenen Schusswaffe. Nichts konnte schlimmer sein als diese freudlose Leere – weder die Langeweile und die Schmerzen, die seine Genesung begleitet hatten, samt der anschließenden intensiven Einsatznachbesprechung und den daraus resultierenden Verhandlungen mit PSS , noch die stillen, endlosen Tage, die er allein und benommen in seinem Apartment in Rom zugebracht hatte. Zusammengesunken in einem Sessel hatte er Stunde um Stunde zugesehen, wie die Schatten über die Wände krochen. Unfähig zu essen, zu schlafen, sich zu rühren.
Alles, was er zu tun versuchte, war ihm wie nutzlose Schauspielerei ohne jede Bedeutung vorgekommen. Es gab in seinem Leben nichts, das zählte. Wie auch? Was zählte, war ihm entrissen worden. Was zählte, lebte und atmete auf der anderen Seite der Erde. Sein Herz, das außerhalb seines Körpers pochte und ihn ignorierte.
Endlich meldete sich die Gegensprechanlage. »Wer ist da?«
Es war eine weibliche Stimme, aber nicht Tams. »Ist dies das Haus von Tamara Steele?«, erkundigte er sich.
Nach einer misstrauischen Pause fragte die Stimme: »Wer will das wissen?«
»Valery Janos. Ist sie da?« Er trat vor die Kamera, starrte hinein und ließ sich von der Person, die gerade auf den Monitor guckte, aus nächster Nähe inspizieren.
Das Schloss klickte, dann schwang das Tor surrend auf. Val trat aufs Gas und folgte der langen Serpentinenstraße, die zum Gipfel hinaufführte, hinter dem das Gelände steil zum pazifischen
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