Stunde der Vergeltung (German Edition)
wusste. Imre hatte die Tiefe der Liebe, die der Junge für ihn hegte, immer gespürt. Ebenso wie seine Sehnsüchte. Obwohl sein stolzer Vajda bestimmt eher sterben würde als das zuzugeben.
Vajda war der Sohn, den er nie gehabt hatte. Und was für ein Sohn. Seine ganze Intelligenz, all sein Potenzial, und er warf das alles einfach achtlos weg. Perlen vor die Säue.
Er hatte bei seinem Ziehsohn versagt. Es war ihm nicht gelungen, ihn aus seinem Schweinekoben zu befreien. Imre hatte sich so sehr gewünscht, Vajda aufblühen und gedeihen zu sehen, zu erleben, wie er den ihm zugedachten Platz in der Welt einnahm. Er war als Söldner ebenso vergeudet, wie er es als Günstling eines Mafiaganoven gewesen war. Diese grausame, dumme Verschwendung machte ihn rasend. Sie fraß ihn seit Jahren auf.
Nun endlich verstand er, warum Vajda stets darauf beharrt hatte, dass ihm keine andere Wahl bliebe, als weiter für Novak zu arbeiten. Wie ignorant, wie arrogant es von Imre gewesen war, ihn dafür zu tadeln, ihn einen Narren und Pessimisten zu schimpfen. Ihm wurde nun klar, dass Vajdas Vorsicht nur ein kalkulierter Kampf ums Überleben gewesen war. Er hatte sich einfach einen realistischen Pragmatismus angeeignet, der ihn entgegen aller Wahrscheinlichkeit am Leben erhalten hatte. Er schuldete dem Jungen eine Entschuldigung.
Mehr als eine Entschuldigung. Er schuldete Vajda alles. Doch das hier war ein Preis, den der Junge nicht bezahlen konnte. Das hier würde ihn seine Seele kosten.
Er hätte es dem Jungen sagen müssen . Aber er hatte solche Angst gehabt, dass Vajda auf stur schalten und darauf bestehen würde, in Imres Nähe zu bleiben, wenn er von seiner Krankheit gewusst hätte. Budapest war ein gefährliches Pflaster für ihn, ein Ort der Bitterkeit und schmerzhaften Erinnerung. Imre hatte es für das Klügste gehalten, dass der Junge sich von seiner Vergangenheit fernhielt. Bis die Vergangenheit sie mit einer Geschwindigkeit eingeholt hatte, die keiner von ihnen vorhersehen konnte.
Einzig Imres Tod würde Vajda befreien. Nur wie? Der Raum war leer, mit Ausnahme der Pritsche, der Decke, der Metalltoilette, die aus der Wand ragte. Sie brachten ihm zweimal täglich auf einem Kunststofftablett Essen in einem Plastiknapf, dazu einen windigen Plastiklöffel. Es gab kein Metall in dem Raum, das sich scharf zufeilen ließ, kein Glas, das man zerbrechen konnte.
Er schrak vor der Idee, sich das Leben zu nehmen, zurück, aber es wäre doch bestimmt keine Sünde, wenn es aus Liebe, aus nackter Verzweiflung geschähe. Zumindest war es eine geringere Sünde als die, die Vajda riskierte, um ihn zu retten.
Wenn er doch nur einen Weg finden könnte.
Tam kochte noch immer vor Wut, als die getarnten Türen aufglitten und ihr Zugang zu der unterirdischen Garage gewährten. Sie hatte gehofft, dass die Fahrt sie beruhigen würde, aber sie war alles andere als ruhig. Sie war völlig fassungslos und so zornig, dass sie nahe daran war, sich zu übergeben.
Vielleicht könnte sie Rosalia durch die Aussicht auf bezahlte Überstunden und ein wenig demütiges Betteln überreden, noch eine Weile zu bleiben, damit Tam sich vor den Computer setzen und anfangen könnte, einen Plan auszutüfteln.
Diese Hoffnung löste sich in Luft auf, als sie Rachels Geheul hörte. Es hatte diese markerschütternde Qualität, die immer eine sehr schlechte Nacht prognostizierte. Scheiße . Und was jetzt? Ausgerechnet heute Abend. Sie war geliefert.
Tam hatte kaum die Handtasche abgelegt, als Rosalia ihr auch schon das kreischende Kind in den Arm drückte und zum Schrank stürzte, um ihren Mantel und ihre Tasche zu holen.
»Halt, Rosalia, warten Sie«, protestierte Tam mit erhobener Stimme, um Rachels Heulen zu übertönen. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie heute etwas länger bleiben könnten, nur bis ich Gelegenheit hatte … «
»Nein! Ich muss sofort gehen! Meine Söhne wurden oben in Olympia verhaftet! Ich habe die Nachricht vor einer halben Stunde bekommen, und ich wollte Sie anrufen, aber die Kleine hat geweint, deswegen konnte ich nicht. Ich muss auf der Stelle zu meinen Jungs!«
Tam war derart überrascht, dass sie ihre eigenen Probleme für den Moment vergaß und nun endlich Rosalias aschfahles Gesicht, den Stressschweiß auf ihrer Stirn und ihre geröteten Augen bemerkte. »Aber … aber wieso … ?« Sie verstummte.
Ihr kam ein schrecklicher Verdacht. Oh, dieser bösartige, hinterhältige Hurensohn. Der Verdacht wurde augenblicklich zur Gewissheit.
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