Stunde der Vergeltung (German Edition)
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»Nein. Bleib in Europa. Ich lasse dich wissen, was ich benötige. Und überprüfe die Sache mit Zetrinja, sobald du kannst. Ich brauche einen Aufhänger bei dieser Frau.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, holte Val die Telefonnummern hervor. Es war an der Zeit, sie ein bisschen zu nerven. In wenigen Stunden würde Steele herausfinden, wer dahintersteckte. Mit ein wenig Glück würde sie wütend genug werden, um ihn aufspüren und töten zu wollen. Schon eine alte Schulhofregel besagte, dass negative Beachtung besser war als gar keine Beachtung.
Er würde alles tun, damit sie ihn bemerkte. Alles, was nötig war.
Er hätte es dem Jungen sagen sollen .
Das Bedauern darüber, es nicht getan zu haben, setzte ihm schlimmer zu als die körperlichen Schmerzen. Imre versuchte zu atmen, um sich zu entspannen, doch es gelang ihm nicht. Seine Lungen hatten sich zusammengezogen, sie waren verkrampft wie Fäuste, die sich nicht öffnen wollten. Er wiegte sich auf der schmalen, harten Pritsche vor und zurück und schnappte keuchend nach Luft.
Der Raum war klein und stank. Dreckig und trostlos. Ein düsterer Würfel aus Betonwänden ohne natürliches Licht. Tag und Nacht waren nur künstliche Konstrukte, festgelegt durch eine brutal hell flackernde Neonlampe, die durch eine Zeitschaltuhr so programmiert war, dass sie zwölf Stunden lang brannte, und während der anderen zwölf Stunden herrschte stockschwarze Finsternis. Die Zellenwände waren mit den bedrückenden, hoffnungslosen Graffitis früherer Insassen verziert, von denen die meisten mit menschlichem Blut oder anderen, noch weniger appetitlichen Substanzen angefertigt worden zu sein schienen. Imre versuchte sie zu ignorieren. Es half, dass er seine Brille nicht trug.
Der Schmerz war unbeschreiblich und ließ nicht nach. Er hatte vor der ärztlichen Diagnose schon einige Schmerzen und Qualen durchlitten, nicht zu vergessen die beiden Male, als man ihn brutal zusammengeschlagen hatte, doch das Schlimmste im Moment waren seine Knochen, die sich zersetzten. Er sehnte sich verzweifelt nach den Morphiumtabletten, die die Ärzte ihm verschrieben hatten. Doch noch stärker vermisste er die anderen Möglichkeiten, ihn von den Schmerzen abzulenken. Bach war sein Favorit. Die Suiten für Violoncello oder die Partiten für Violine. Musik konnte den Geist aus einem siechen Körper herausschweben lassen. Genau wie die Poesie oder die Philosophie. Sogar die Tauben, die vor dem Fenster seiner Wohnung gurrten, oder die Wolken, die der Sonnenuntergang rosarot einfärbte. Eine Tasse Tee und eine Partie Schach mit seinem alten Nachbarn am anderen Ende des Flurs. Bescheidene Freuden. Heute schienen sie ihm unendlich kostbar.
Imre versuchte, sich seine Trost spendenden Lieblingspsalmen ins Gedächtnis zu rufen. Er hatte sich bemüht zu beten, hatte sogar Ilona um Hilfe angerufen, denn die süße Erinnerung an sie war ihm immer ein Trost. Doch er war nun mal kein Heiliger, kein Superman.
Imre fürchtete sich zu Tode.
Es war ihm schon vor seiner Entführung schwer genug gefallen, sich mit seinem bevorstehenden Tod auseinanderzusetzen. Bauchspeicheldrüsenkrebs hatten die Ärzte diagnostiziert. Fortgeschrittenes Stadium. Sie hatten ihm die üblichen Behandlungsmethoden vorgeschlagen, aber er musste ihnen nur in die Augen sehen, zuhören, was sie über Infiltration, Lymphknoten, Metastasen in Leber und Knochen sagten, um zu wissen, dass es ein aussichtsloser Kampf wäre. Drei Monate, wenn er nichts unternahm. Das war nun fast einen Monat her. Und er hatte es Vajda nicht erzählt.
Es war nicht so, dass er sich vor dem Tod fürchtete. Er war fast achtzig. Dreißig Jahre seines Erwachsenenlebens hatte er ohne seinen Schatz Ilona und die kleine Tina zugebracht. Er war bereit, er hatte seinen Glauben und war fast sicher, dass er Ilona und Tina auf der anderen Seite wiedersehen würde, trotzdem war der Tod noch immer eine große Unbekannte. Es war schwer, loszulassen. Aber es quälte ihn, dass sein armer Vajda gegen die infernalischen Machenschaften dieses Ungeheuers ankämpfen musste, um Imre zu retten, obwohl er schon so gut wie tot war.
Nicht dass der Krebs für Vajda einen Unterschied machen würde. Aber zusehen zu müssen, wie sein Ziehvater gefoltert wurde, würde dem Jungen das Herz zerreißen. Vajda war so zerbrechlich, so verletzbar und allein. So sensibel er hinter seinem Schutzpanzer auch sein mochte, hatte er in seinem Leben keine anderen Bindungen geknüpft, soweit Imre
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