Stunde der Vergeltung (German Edition)
konnte sich nicht vor diesen strahlenden Augen verstecken. Er war ein ausgebrannter, nichtsnutziger Versager nach all den Jahren des Tötens und Hurens für PSS.
Er rieb sich übers Gesicht. Die Frau hatte Macht über ihn, gestand er sich im Stillen ein. Wegen ihr verkroch er sich mit hängenden Schultern in einer Bar und ertränkte sein Selbstmitleid in Alkohol. Dabei hatte er dafür gar keine Zeit. In achtundvierzig Stunden würde Novak damit beginnen, Imre zu verletzen. Val konnte seine Niederlage nicht akzeptieren. Noch nicht.
Er nahm seinen Laptop aus dem Aktenkoffer, klappte den faltbaren Dreißig-Zoll-LCD-Monitor und die provisorische Tastatur auseinander, dann fuhr er ihn hoch. Er trank einen weiteren Schluck von seinem Scotch, ließ die brennende Flüssigkeit durch seine Speiseröhre rinnen und öffnete die Datei mit Novaks Fotos, die er am Morgen in seinen Computer eingescannt hatte.
Glänzend rotierten sie in der Matrix. Val wurde nie müde, über ihnen zu meditieren. Es gab immer etwas Neues an den Aufnahmen von Steele zu entdecken, sogar wenn er sich wie ein Wurm unter Novaks Stiefelabsatz krümmte.
Er klickte weiter bis zu seinem Lieblingsfoto, dem mysteriösesten und hintergründigsten. Das schwarze Kleid, das traurige Gesicht. Der Strauß wilder Gänseblümchen und Lavendel, den sie vor der Bronzetafel ablegte. Val fügte sie in die Matrix ein und trat drei Schritte zurück, ließ das Foto schimmernd kreisen.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als eine Idee Gestalt annahm. Er vergrößerte das Foto und zoomte die Plakette heran, bis sie den Monitor ausfüllte.
Weitere Sträuße lagen unter der Bronzetafel und verbargen einen Teil der Grabinschrift. Er konnte gerade noch das Wort Zetrinja und ein Datum, 1992 , ausmachen, außerdem ein Zitat in einer ihm unbekannten Sprache. Dann folgte eine Liste von Namen.
Es war eine sehr lange Liste. Die Namen waren unleserlich, zumindest mit diesem Programm und bei dieser Monitorauflösung. Die Gedenktafel und die Namen deuteten auf ein Massengrab hin. Es war eine große Menschenmenge zu sehen, Männer in Anzügen, Fernsehkameras.
Ein Gedenkgottesdienst, um der Opfer irgendeines Kriegsgräuels zu gedenken. Sein Hirn lief auf Hochtouren. 1992. Der serbokroatische Konflikt. Nicht sein Fachgebiet, aber Henry hatte einige Zeit auf dem Balkan verbracht und beherrschte die Sprache gut. PSS hatte dort viele Agenten stationiert. Doch Henry war der Einzige, mit dem Val über diese Mission gesprochen hatte.
Er zog sein Handy heraus und rief ihn an. Sein Kollege befand sich derzeit im PSS-Hauptquartier außerhalb von Paris. Es läutete sechsmal, ehe Henry mit schlaftrunke ner Stimme an twortete.
»Scheiße, Val. Es ist fünf Uhr morgens«, beschwerte er sich.
»Ich brauche einen Gefallen.«
»Tust du das nicht immer?«
»Hast du je von einem Ort namens Zetrinja gehört?«
Henry überlegte. »Irgendwas klingelt da bei mir. Liegt in Kroatien, glaube ich.«
»Geh ins Archiv. Finde alles darüber heraus, was 1992 dort passiert ist. Sieh zu, ob du mir eine Liste mit den Namen der Mädchen und jungen Frauen – sagen wir zwischen zehn und zwanzig – beschaffen kannst, die involviert gewesen sein könnten.«
Henry pfiff durch die Zähne. »Du glaubst, Steele ist Kroatin?«, fragte er dann.
»Könnte sein«, sagte Val. »Oder das Ganze könnte sich als komplett irrelevant herausstellen.«
Henry schwieg eine Weile. »Was ist los?«, fragte er leise. »Gibt es ein Problem?«
Val zögerte. Er versuchte schon seit seiner Abreise aus Budapest zu einem Entschluss zu gelangen, ob er Henry in diese Schlangengrube mit hineinreißen sollte. Aber falls er eine Rettungsaktion organisieren müsste, würde er das nicht allein schaffen. Er brauchte Rückendeckung, und Henry war der Einzige, dem er vertraute.
Val sprang ins kalte Wasser. »Ja, es gibt ein Problem«, bestätigte er.
In wenigen kurzen Sätzen schilderte er ihm Imres Geiselsituation. Sein Freund verharrte anschließend in grimmigem Schweigen.
»Was für eine Scheiße, Kumpel«, sagte er. »Du bist echt am Arsch.«
»Danke für die Aufmunterung. Ich bin tief gerührt.«
»Was hast du als Nächstes vor?«
»Ich weiß es nicht«, bekannte Val. »Ich improvisiere. Gut möglich, dass ich einen extrem gefährlichen, verrückten Plan entwickle. Kann ich auf dich zählen?«
»Beleidige mich nicht, Arschloch. Ich lebe für verrückte und gefährliche Aktionen. Willst du, dass ich zu dir komme und …
Weitere Kostenlose Bücher