Sturm der Herzen
verfluchte Memorandum muss irgendwo sein, aber bis es gefunden ist, ob nun bei Whitley oder nicht, kann keiner von uns ruhig schlafen.« Er seufzte. »Wenn wir nur Whitley als Verdächtigen ausschließen könnten …«
Marcus starrte auf seine Stiefelspitze und fragte sich, ob ein weiterer Besuch am Goldfischteich Whitley wohl die Zunge lösen würde. Vermutlich nicht. Einen Anhänger mit Geheimnissen in seinem Besitz zu haben war nicht ganz das Gleiche wie ein Dokument, das einen wegen Hochverrats an den Galgen bringen konnte.
»Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, den Mann an einen einsamen Ort zu locken und ihn zusammenzuschlagen, bis er die Wahrheit gesteht«, gestand Jack, als habe er erraten, was Marcus dachte. Halb ironisch fügte er hinzu: »Natürlich könnte er auch unschuldig sein.«
»Ich weiß, wir haben keine Spur des Memorandums gefunden, aber ich halte ihn für alles andere als unschuldig. Er führt irgendetwas im Schilde«, widersprach Garrett. »Vergiss nicht, Keating hat mir erzählt, er habe gesehen, wie Whitley sich angeregt und offensichtlich einvernehmlich mit Collard unterhalten hat. Und ich weiß genau, dass Whitley, wenn er getrunken hat, gerne durchblicken lässt, mit Collard auf vertrautem Fuß zu stehen. Nun könnte er zwar bloß angeben, um interessanter zu erscheinen, indem er mit jemandem wie Collard befreundet ist, aber das glaube ich eher nicht. Unser Major hält eine Menge von sich selbst, ich kann mir daher nur schwer vorstellen, dass er sich unter die Schmuggler mischen würde, wenn er davon nicht irgendeinen Vorteil hätte. Und den einzigen Vorteil, den ich an der ganzen Geschichte für ihn sehen kann, ist, dass Collard ein Schmuggler ist und Kontakte zu französischen Konterbanden auf dem Kontinent unterhält.«
»Aber das wirft eine weitere Frage auf«, sagte Jack. »Wenn Whitley das Memorandum hat und Kontakt zu Collard aufgenommen hat, was zum Teufel tut er dann hier noch? Warum ist er damit nicht längst auf die Kanalinseln oder nach Frankreich gesegelt?«
»Weil«, erwiderte Marcus langsam, »er darauf wartet, von den Franzosen zu hören.« Auf die zweifelnden Blicke der beiden anderen hin fuhr er ungeduldig fort: »Er hat etwas sehr Wertvolles, und er ist nicht dumm. Vielleicht hat er im Vorfeld seine Kontaktperson in Frankreich getroffen und traut ihr. Es ist sogar möglich, dass er bereits alle Vorbereitungen für die Übergabe des Memorandums gegen eine gewisse Menge Gold getroffen hat, aber das bezweifle ich eigentlich. Wenn er das Memorandum gestohlen hat, dann vermutlich im Affekt. Nach allem, was wir wissen, hat er bei seinem Besuch bei den Horse Guards an jenem Tag nichts Unheilvolles geplant; er wollte einfach einen alten Bekannten besuchen und Klatsch hören. Als er das Memorandum auf Smithfields Schreibtisch bemerkt hat und sich dann auch noch die Gelegenheit ergab, es ungesehen an sich zu nehmen, muss es ihm wie eine himmlische Fügung erschienen sein.« Er lächelte grimmig. »Aber das Memorandum in Händen zu halten und daraus Profit zu schlagen, das sind zwei Paar Schuhe. Ich weiß nicht, wie es bei euch wäre, aber ich an seiner Stelle würde nicht einfach an Bord des erstbesten Schmugglerschiffes nach Frankreich gehen und nach Paris reisen, um mit dem Dokument Napoleons Generälen vor der Nase herumzuwedeln. Ich würde erst einmal sicherstellen, dass ich wieder nach England zurückkäme, und zwar mit meinem Kopf auf den Schultern, und zweitens, dass ich für das Memorandum einen hohen Preis erziele und nicht betrogen werde.«
»Natürlich!«, rief Jack, und seine dunkelblauen Augen funkelten vor Aufregung. »Er hat ja keine Garantie, dass ihm seine Kontaktperson das Papier nicht einfach selber stiehlt und ihn am Ende tötet.«
»Vergiss nicht: Nachdem er sein Geld bekommen hat - wahrscheinlich in Gold -, muss er es nach England zurückschaffen«, erinnerte Marcus ihn.
»Also ist es sehr wahrscheinlich, dass er Collard als Mittelsmann braucht, um das Geschäft anzubahnen und dann das Gold nach England zurückzutransportieren«, überlegte Garrett laut. »Was, wenn man Collard kennt, verflucht riskant ist. Ich würde ihm zweifellos zutrauen, Whitley zu ermorden und das Gold zu behalten.« Mit einem Blick zu Marcus erklärte er: »Ich frage mich, ob Collard weiß, was Whitley vorhat?«
Marcus zuckte die Achseln. »Wer weiß? Aber während Collard ein Schmuggler ist, der als hochgefährlich und skrupellos gilt, der unsern Zolleintreibern eine
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