Sturm der Seelen: Roman
unglaublich dankbar und all das, aber ich begreife es einfach nicht ganz. Wie kann es sein, dass ihr alle euer Leben für uns geopfert habt, wo wir doch diejenigen waren, die dieses Land erobert und euch Eingeborene vertrieben haben? Wir waren es, die all die Waffen zur Zerstörung dieser Welt erfunden und gebaut haben und es nicht erwarten konnten, sie endlich einzusetzen. Wie konntet ihr euch für Menschen opfern, die sich so wenig um den Wert des Lebens scheren?«
Stille.
Jill kicherte leise. Warum war sie überhaupt hier? Hatte sie allen Ernstes erwartet, dass dieser Haufen Knochen zu ihr sprechen würde? Am ehesten hatte sie wohl darauf gehofft, dass der Geist dieser Frau ihre eine Vision schicken würde, die alles erklärte. Jill selbst hätte sich jedenfalls nie träumen lassen, dass Menschen zu einem derartigen Opfer fähig wären. Menschen waren gierig und egoistisch, und ganz egal wie sehr sie sich wünschte, sie wäre anders, tief in ihr drinnen wusste Jill, dass auch sie selbst keine Ausnahme war. So war nun mal die Natur des Menschen. Wäre die Welt nach der Vernichtung des Homo sapiens nicht besser dran? Erdgeschichtlich betrachtet bevölkerte der Mensch die Erde erst seit wenigen Sekunden, und trotzdem hatte er bereits beinahe sämtliche natürlichen Ressourcen geplündert, die Atmosphäre mit seiner Industrie verpestet und den gesamten Planeten mit verheerenden Kriegen überzogen. Wären sie zu der gleichen Hingabe und Aufopferung fähig wie die Gosiute, hätten sie es ihnen gleichgetan und sich Kriegs Heerscharen ergeben, um den Weg zu bereiten für zukünftige Spezies, die sich nicht der Zerstörung, sondern dem Aufbau verschrieben. Die sich ausbreiteten, ohne Kriege zu führen. Warum sollten sie überleben, wenn der Mensch zu nichts anderem imstande war, als Tod und Vernichtung über die Welt zu bringen?
Jill spürte, wie die dunklen Augenhöhlen des Schädels sie in sich hineinsaugten und an einem anderen Ort in einer anderen Zeit wieder ausspuckten. Sie stand vor einer nackten Felswand, über die das flackernde Licht der hinter ihr brennenden Fackeln tanzte. Zu ihren Füßen lag ein Dutzend bunter Kreidestücke. Sie blickte an sich hinunter, sah das Gewand aus getrockneter Tierhaut und den großen, runden Bauch, der sich darunter wölbte, und sie wusste, dass die Kreide darauf wartete, von ihr auf die Wand gebracht zu werden. Unter großer Anstrengung bückte sie sich, denn das heranwachsende Leben in ihrem Körper erschwerte jede Bewegung. Dann führte sie die Kreide über den Fels und begann zu malen. Ihre Augäpfel rollten nach oben, und Jill konzentrierte sich voll und ganz auf ihre Vision. Als sie die Augen wieder in ihre normale Position brachte, war das Wandgemälde schon zur Hälfte fertig. Waren in der Zwischenzeit mehrere Wochen vergangen? Der winzige Stumpen Kreide glitt ihr aus den Fingern, und als sie ihm mit ihrem Blick folgte, sah sie die Pfütze zwischen ihren Füßen.
Sie sah Feuer, die um sie herum brannten, und Gesichter von Eingeborenen, die sie auf einer unbewussten Ebene wiederzuerkennen glaubte. Ihre eigenen Schreie hallten aus allen Richtungen wider. Dann verließ die Ursache ihrer Schmerzen ihren Körper, wurde in eine Tierhaut gehüllt und eilig fortgetragen auf Armen, die nicht die ihren waren, trotz ihrer flehenden Schreie und trotz des herzzerreißenden Weinens, das aus dem Bündel schallte.
Dann flimmerte das Bild kurz. Jill stand jetzt im Eingang der Höhle und sah, wie eine alte Frau mit pechschwarzem Haar den Strand entlang in Richtung Norden von ihr weglief, das schreiende Bündel auf den Armen. Sie sank auf die Knie und beschwor die Frau mit Worten in einer Sprache, die sie nicht verstand, wieder zurückzukommen. Sand quoll zwischen ihren gespreizten Fingern hindurch, während sie auf das Ufer zukroch, in der vagen Absicht, sich und ihren Schmerz in dem salzigen Wasser zu ertränken. Und als sie schon das Wasser an ihren Armen und Beinen spürte, blickte sie hinab auf die sanft gekräuselte Oberfläche und betrachtete ihr Spiegelbild. Das Gesicht, das sie dort sah, war das der Frau, die sie nur als Skelett kannte, aber die Augen in diesem Gesicht … es waren die ihren.
Jill riss ihren Blick los von diesem Spiegelbild, das nur teilweise ihr eigenes war, und schaute nach Osten, wo sich dunkle Sturmwolken wie Säulen in den Himmel erhoben, zwischen denen sie, in einer noch fernen Zukunft, einen schwarzen Turm sah. Eine Welle der Kälte ging von ihm aus, die
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