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Sturm der Seelen: Roman

Sturm der Seelen: Roman

Titel: Sturm der Seelen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael McBride
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hatte. Seine Züge waren härter geworden, und seine Augen, aufgewühlt von inneren Konflikten, schauten bei weitem nicht mehr so unschuldig hinaus in die Welt wie zuvor. »Wir haben noch viel zu tun.«
    Phoenix ließ die Hände seiner beiden Begleiter los und ging hinaus in den Schnee, die Augen fest auf den östlichen Horizont gerichtet. Er zitterte, nicht vor Kälte, auch nicht wegen des Temperaturunterschieds zwischen der eisigen Luft und der Wärme der vereinzelten Sonnenstrahlen, sondern er zitterte vor der Dunkelheit, die ihn gleichzeitig abstieß und anzog. Jetzt trug er sie in sich, wie einen Parasiten. Er wollte sie loswerden, sie einfach herausreißen, aber er wagte kaum daran zu denken, was geschehen könnte, wenn er sie hinaus in die Welt ließe und, schlimmer noch, was sie denen antun würde, die er liebte.
    Er drehte sich wieder zu seinen Freunden um, das Sonnenlicht in seinem Rücken zeichnete seine Konturen nach und ließ ihn wie einen schwarzen Schatten erscheinen. So musterte er sie einen nach dem anderen, dann sprach er mit gesenkter Stimme, um ihnen die Ernsthaftigkeit der Lage zu verdeutlichen und sie auf die Prüfungen vorzubereiten, die bald kommen würden.
    »Das Schlimmste steht uns noch bevor.«

BUCH ZEHN
     

LXXIII
     
    IN DEN RUINEN VON DENVER, COLORADO
     
    Richard hatte schon lange aufgehört zu schreien, auch den überwältigenden Schmerzen setzte er keinen Widerstand mehr entgegen. Immer wieder blitzte sein Bewusstsein kurz auf, doch er verscheuchte es schnell wieder zugunsten einer stumpfen Ohnmacht, in der sich die Qualen besser ertragen ließen und er nichts von den scharfen Klauen wusste, die sich bis auf die Knöchel seiner Fußgelenke durchschnitten, oder dem Schnee, der sich immer wieder über seinem Gesicht auftürmte und das Atmen fast unmöglich machte. Irgendwo in seinen Gedanken war er zuhause in seinem Arbeitszimmer, mit einem Cognacschwenker voll Brandy in der Hand und CNN auf dem großen Plasmabildschirm, während sein Körper Meilen um Meilen durch den Schnee geschleift wurde, über Eis und scharfkantige Felsen hinweg. Die einzigen Unterbrechungen gab es, wenn die Echsenmonster hinauf in die Bäume kletterten, um dort die nächste Nacht abzuwarten. Dann ließen sie ihn, noch immer an ihren Klauen baumelnd, kopfüber nach unten hängen, woraufhin alles Blut in seinen Kopf schoss und ihm nichts anderes übrig blieb, als die unsäglichen Schmerzen zu ertragen. Immer wieder fragte er sich, wie viel ein Mensch wohl aushalten konnte, bis sein Körper einfach aufgab, und er betete, dass er diesen Punkt bald erreicht haben würde. Er kam fast um vor Hunger, der nie gestillt wurde, nur seinen Durst konnte er halbwegs befriedigen mit dem geschmolzenen Schnee in seinem Mund, der in einem dünnen, lauwarmen Rinnsal seine Kehle hinunterrann.
    Den Zustand, in dem sich sein Geist noch vor ein paar Stunden befunden hatte, mochte man Wahnsinn nennen, aber für das, was er jetzt durchlebte, gab es kein Wort in der Sprache der Menschen. Gefühle wie Wut und Hass existierten nicht mehr, selbst Furcht gehörte der Vergangenheit an. Richard vegetierte einfach vor sich hin, verbannt in die hintersten Winkel seines Bewusstseins, ein Bewusstsein, das in Scherben lag wie die Fenster der zerstörten Kirche in Salt Lake City – farbige Bruchstücke eines Lebens, das ihm nichts mehr bedeutete.
    Als die Qual der Reise endlich vorüber war, brauchte Richard ein paar Minuten, um es zu begreifen. Ständig wartete er darauf, jeden Moment wieder kopfüber aufgehängt zu werden, doch nichts dergleichen passierte. Die Klauen gaben seine Fußgelenke frei, und seine Augen, die so lange fest geschlossen gewesen waren, dass ihnen jetzt sogar die Dunkelheit der Nacht wehtat, öffneten sich einen Spalt breit. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie unterwegs gewesen waren oder wie viele Meilen sie zurückgelegt hatten, er wusste nur, dass in der Zwischenzeit mehrere Zeitalter vergangen sein mussten. Er sah schwarze Wolken, zwischen denen violette Blitze hin und her zuckten, die wie in einem Strudel um einen ebenso schwarzen Turm kreisten. Wie ein gigantischer, leicht zur Seite geneigter Obelisk ragte das Gebäude, auf die Ruine des Wolkenkratzers daneben gestützt, über ihm auf. Alle Glasflächen waren restlos zerstört, nur die nackten Stahlträger standen noch wie gefangen zwischen Entstehung und Zerstörung, zwischen Leben und Tod, genau so, wie er selbst sich fühlte. Ganz oben sah er einen Schatten, kaum

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