Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
noch nicht begriffen, wie mein Volk die Welt sieht.«
»Stimmt, manchmal habe ich wirklich Schwierigkeiten, euch Nordländer zu verstehen. Du bist zuweilen schrecklich sentimental, mein Liebster.«
»Dann erlaube mir, noch ein wenig sentimentaler zu werden«, bat er. »Bring diese Schreitende nicht um.«
»Die, die dir in die Arme gelaufen ist?«
»Ja.«
»Warum willst du sie am Leben lassen?« Ihre Stimme klang so gelangweilt, als sprächen sie übers Wetter.
»Weißt du das wirklich nicht?«, fragte er, während er ihr tief in die Augen sah.
»Weil diese kleine Schreitende ein genaues Abbild der jungen Tsherkana ist?«, fragte sie zurück und strich ihm zärtlich übers Haar. »Die gleichen Augen, die gleiche Figur, das gleiche Haar und das gleiche Gesicht. Und die gleiche Sturheit. Selbst die Stimme ähnelt der Tsherkanas. Obwohl … inzwischen ist so viel Zeit vergangen, dass ich den Klang ihrer Stimme vergessen habe.«
»Aber ich nicht. Und sie ähneln sich wirklich. Diese Schreitende ist Tsherkana wie aus dem Gesicht geschnitten, fast als wäre sie ihre Tochter.«
»Es ist merkwürdig, wenn die Toten zum Leben erwachen, nicht wahr?«, flüsterte sie. »Fast als hätte dein Ug ein Wunder vollbracht.«
»Stimmt«, sagte Ley. »Aber du bist nicht eifersüchtig, oder?«
»Nein, natürlich nicht, dafür kenne ich dich viel zu gut. Dich plagt nur noch immer dein Gewissen, mein guter alter Krieger. Glaubst du wirklich, dir würde leichter ums Herz sein, wenn diese Schreitende am Leben bleibt? Wirst du dann aufhören, dir einzureden, es sei deine Schuld, dass Tsherkana gestorben ist?«
»Ich weiß es nicht.«
»Möchtest du, dass ich sie freilasse?«
»Du hast doch deine eigenen Pläne mit ihr, oder?«
»Ja.«
»Dann überstürze nichts«, sagte er. »Quäl sie einfach nicht grundlos. Und verbiete Kadir, sie noch einmal zu schlagen. Wenn er nicht einer deiner Auserwählten wäre, hätte ich ihn deswegen längst umgebracht. Wie erbärmlich – eine Frau zu schlagen!«
»Gut, ich werde ihn zur Ordnung rufen. Was soll mit dieser Mitha geschehen? Immerhin verfügt sie über das Blut der Falken …«
»Behalte sie bei dir. Falls ich am Koloss scheitere, kannst du es mit ihr noch einmal versuchen.«
»Sprich nicht so«, verlangte Alenari mit zitternder Stimme. »Du wirst ganz bestimmt nicht scheitern.«
Darauf antwortete er kein Wort – und ihre Finger streichelten weiter sein rotes Haar, das an den Schläfen bereits ergraute.
Kapitel
27
Kennt man einen Krieg, kennt man im Grunde alle. Es mag noch so viel Zeit ins Land ziehen, der Krieg verändert sein Gesicht nicht. Niedergebrannte Ortschaften, Tote, Aaskrähen und Gräber am Straßenrand bleiben sich immer gleich. Ebenso wie der Hunger, der um sich greift, die Angst, die sich in den Dörfern ausbreitet, die Preise, die in schwindelerregende Höhen schnellen, und die Morde, die mal wegen eines scheelen Blicks, mal wegen ein paar dreckiger Stiefel begangen werden.
Je weiter wir nach Norden gelangten, desto hoffnungsloser sah alles um uns herum aus. Das Imperium schien an den Tod verloren. Sein Gestank folgte uns überallhin, vergiftete die frische Waldluft, fiel übers Quellwasser her, überlagerte den Geschmack des Essens, fraß sich in die Kleidung und machte die Pferde scheu.
»Da platzt doch die Kröte!«, stieß Luk mit angewiderter Miene aus. »Reiten wir hier eigentlich über einen riesigen Friedhof, oder was?«
Das kam der Wahrheit ziemlich nahe. Friedhof, Grabhügel, Nekropole – wie auch immer man es nannte, es änderte nichts an den Tatsachen. Derart viele Leichen hatte ich selbst im Sandoner Wald nicht gesehen. Die Hitze, wilde Tiere und Insekten hatten sich bereits an ihnen gütlich getan. Der Anblick dieser menschlichen Überreste dürfte sogar einen Nekromanten das Fürchten gelehrt haben. Außerdem stießen wir selbst an Orten, in die offenbar seit Jahrtausenden kein Mensch einen Fuß gesetzt hatte, auf Leichen. Aber in diesem Krieg hatten sowohl die Nabatorer als auch unsere Soldaten den Aaskrähen noch im hintersten Winkel ein Festmahl bereitet.
Allein in der letzten Woche waren wir an vier riesigen Schlachtfeldern vorbeigekommen, auf denen der Stahl ebenso wie der Funken gewütet hatte. Ich bin hart im Nehmen, denn in jungen Jahren hatte ich im Sandoner Wald so einiges mitansehen müssen. Wir sind damals genauso grausam gewesen wie die Hochwohlgeborenen. Trotzdem war das, was wir nun vorgeführt bekamen, nicht leicht zu
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