Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
von ihrem kleinen Ausflug zum Dach des Meloth-Tempels zurück sein. Trotzdem legte ich keine große Eile an den Tag. Bis das Schiff in See stach, blieben noch einige Stunden.
In der Menschenmenge machte ich dann auf Anhieb ein bekanntes Gesicht aus. Der Mann winkte mich zu sich, wartete aber nicht ab, ob ich ihm folgte, sondern zog sich in einen Hinterhof zurück. Ohne groß nachzudenken, folgte ich ihm.
Im Hof war eine Leiter gegen eines der Häuser gelehnt, die zum Dach hochführte. Von hier aus hatte man eine hervorragende Sicht auf das Meer, den Hafen und die Schiffe.
»Setz dich«, forderte Garrett mich auf.
Er selbst hockte auf einem Gesims, ließ die Beine baumeln und genoss die warme Sonne. Neben ihm lag seine fadenscheinige, dunkelgrüne Leinentasche. Jetzt langte er nach ihr und zog eine Flasche Wein sowie zwei Kristallpokale heraus. Einen davon gab er mir.
Ich nahm den nahezu schwerelosen, scheinbar aus Licht geschaffenen Pokal an mich und beobachtete in aller Gemütsruhe, wie Garrett mit dem Korken kämpfte.
»Diese Flasche hat lange auf ihre Stunde gewartet«, erklärte er.
»Ach ja?«
»O ja, denn dieser Wein wurde an dem Tag abgefüllt, als der Skulptor geboren wurde. Sie ist fast tausend Jahre alt.«
»Und du bist sicher, dass sich der Wein in dieser Zeit nicht in Essig verwandelt hat?«
»Das bin ich«, antwortete Garrett lachend. »Glaubst du etwa, ich würde dir irgendein billiges Gesöff anbieten?«
Er hatte seinen Kampf gewonnen und füllte die Pokale mit dem dunkelvioletten Wein, der mit herbem Geruch betörte.
»Worauf trinken wir?«, fragte ich.
Er dachte kurz nach.
»Auf die Hoffnung«, antwortete er dann.
Der Wein war erstklassig. Selbst jemand wie ich, der ich nicht viel davon verstehe, musste das zugeben. Garrett verengte die Augen zu Schlitzen und schnalzte mit der Zunge.
»Das war wirklich ein guter Jahrgang damals«, sagte er.
»Kriegen wir Menschen eigentlich manchmal Besuch von Göttern?«, wollte ich wissen. »Im Traum, meine ich.«
»Höchstens die verrückten unter euch«, erwiderte er lachend.
»Aber dann …«
»Ich wünsche niemandem, ein Gott zu sein. Diesen Jungs wächst die Arbeit echt über den Kopf. Alle bitten sie um etwas, verlangen und betteln. Glaub mir, die haben keine freie Minute. Nein, mein Freund, das wäre wirklich nicht nach meinem Geschmack. Ich ziehe es vor, dem Wind zu lauschen und diejenigen zu beobachten, die er anweht.«
»Die Ye-arre haben eine Legende …«, versuchte ich, ihm auf einem anderen Weg auf die Schliche zu kommen.
»Von solchen Legenden bastel ich dir fünf Stück pro Tag zusammen«, erklärte Garrett. »Ich bin kein Gott, belassen wir es dabei.«
»Gut«, murmelte ich. »In dem Fall verzichte ich darauf, dich mit Meloth anzusprechen.«
»Da wäre ich eh nicht der Richtige«, sagte er. »Und beim echten Meloth hast du ja darauf verzichtet.«
Als er den Unglauben auf meinem Gesicht bemerkte, fuhr er fort: »Der alte Lereck fährt ab und an ganz gern mit seinem Wagen durch diese Welt. Leider konnte aber selbst er euch nicht davon abhalten, eure Nase in das Nest der Verdammten zu stecken.«
Aber klar!, dachte ich. Wenn der kräftige Priester ein Gott ist, bin ich ein Spitzohr.
»Dann ist also alles, was mit mir geschieht, wahr?«, fragte ich. »Kein Traum?«
»Mit einem Traum hat diese Geschichte doch nun wirklich keine Ähnlichkeit, oder?«, entgegnete Garrett und drückte mir die Flasche in die Hand. »Wie geht es Lahen?«
»Besser als vorher.«
»Gut«, sagte er sehr ernst. »Das freut mich.«
»Wer bist du denn nun? Kannst du mir das nicht verraten?«
»Ich bin derjenige, der all das geschaffen hat«, gestand er seufzend und deutete mit dem Finger auf den Himmel, das Meer und die Sonne.
»Also doch … ein Gott?«, hakte ich vorsichtig nach.
»Nun hör aber endlich mit deinen Göttern auf!«, verlangte er und entriss mir die Flasche. »Als ob es ohne sie gar nicht ginge! Man muss kein Gott sein, um eine Welt zu schaffen. Allerdings kann ein Gott das wesentlich besser als ich.« Er setzte ein schiefes Grinsen auf, doch seine Augen blickten sehr müde drein.
»Als ich noch ein junger und dummer Nichtsnutz war, hat mich eine Freundin mal gefragt, was für eine Welt ich schaffen würde, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte«, holte er aus. »Da habe ich geantwortet, ich würde eine Welt schaffen, in der es Berge voller Gold, dafür aber keine Soldaten gibt. Daraufhin hat sie mich tüchtig ausgelacht und
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