Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
war zwar wieder einigermaßen auf den Beinen, allerdings noch sehr schwach. Mylord Woder konnte jedoch nicht einmal aufstehen, derart zehrte das Fieber an ihm. Von Typhus ganz zu schweigen. Sie hatte anscheinend beschlossen, den ganzen Winter im bewusstlosen Zustand zu verbringen …
»Können wir den Winter in dieser Burg überstehen?«, fragte Rando und ballte die Hände zu Fäusten.
»Das können wir durchaus, Mylord«, versicherte der Ye-arre im Brustton der Überzeugung. »Wir haben alle Möglichkeiten zu überleben. Und das, was fehlt, besorgen meine Brüder und ich. Die Sdisser werden lange vor uns sterben.«
»Das hört sich zumindest nicht allzu schlecht an«, erwiderte Rando lächelnd. Dann wandte er sich mir zu, musterte mich eingehend und riet mir: »Geh schlafen, Ness. In einer Nacht wie dieser wird uns kaum jemand mit seinem Besuch beehren.«
Ich hielt es für unter meiner Würde, darauf auch nur zu antworten. Schweigend schnappte ich mir den Bogen, knöpfte im Gehen die Jacke zu, stieß die Tür auf und trat mit angehaltenem Atem in den Frost hinaus. Luk schob oben auf dem Wehrgang Dienst und fror bereits entsetzlich.
»Geh rein und wärm dich auf!«, rief ich ihm zu, als ich zu ihm hochkraxelte.
»Und du?«
»Ich werd mir hier ein Weilchen die Füße vertreten.«
Luk nickte begeistert, klopfte mir zum Abschied auf die Schulter und eilte ins Warme.
Als mich Lartun dann eine halbe Stunde später ablöste, war ich immerhin noch nicht so durchgefroren, dass ich nur noch den Wunsch hegte, die Treppe hinunterzustürmen. Davon abgesehen empfahl es sich eh, sie langsam zu nehmen und gut aufzupassen, denn sie war unsagbar rutschig. Morgen würde ich als Erstes das Eis auf ihr abschlagen …
Nachdem ich mir den Schnee von den Stiefeln geklopft und den Hauptturm betreten hatte, übermittelte ich Ga-nor die Bitte Lartuns, ihn in einer Stunde abzulösen. Anschließend stieg ich in den ersten Stock hinauf und lief durch die Galerie zu dem Raum, der neben der Kapelle für Meloth lag.
Yanar und Yalak schliefen süß und selig. In der Dunkelheit wäre ich einem der beiden fast auf den Flügel getreten. Am Ende schaffte ich es aber doch, meinen Schafsmantel zu ertasten, mich in ihn zu hüllen und einzunicken.
Es hörte völlig unvermittelt auf zu schneien. Auf dieses Wunder hatte keiner von uns auch nur zu hoffen gewagt. Aber eines Morgens, als ich aufwachte, leuchtete ein völlig klarer und ultramarinblauer Himmel über uns. Nachdem sich die Wolken verzogen hatten, kamen wir in den Genuss des Anblicks schneeweißer Gipfel, die uns auf allen Seiten umgaben und nun im strahlenden Sonnenschein lagen.
Der Erste, den ich im Innenhof traf, war Ga-nor. Er hatte die Jacke abgelegt und übte sich im Schwertkampf, wobei er leichtfüßig auf der Schneekruste tänzelte und die eisige Luft mit der Klinge zerschnitt. Als ich an ihm vorbeiging und ihn mit einem Nicken begrüßte, erhielt ich ein angedeutetes Grinsen zur Antwort.
An dem schneeverschütteten Nordtor entdeckte ich Rona. Sie starrte konzentriert auf eine Steinplatte und schien alles um sich herum vergessen zu haben. Offenbar arbeitete sie an einer Grabplatte für Kallen. Indem sie mit den Händen in der Luft über den Stein fuhr, schmolz sie ihn und gab ihm die nötige Form. Ich trat näher an sie heran und beobachtete erstaunt, wie sich der Basalt veränderte.
Rona schielte zu mir herüber, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
Wir hatten den Ritter an jenem ersten, schwarzen Tag begraben und fühlten uns noch heute alle an seinem Tod schuldig. Deshalb mieden wir das Gespräch über ihn. Trotzdem besuchte jeder sein Grab, wenn er glaubte, wir anderen würden es nicht mitbekommen.
Auch ich war schon öfter hier gewesen, geplagt von schlechtem Gewissen. Ich hätte ihm nie im Leben erlauben dürfen, sich uns anzuschließen, schließlich hätte ich die Stellung mühelos allein gehalten. Obendrein war der Pfeil, der ihn getroffen hatte, eigentlich für mich bestimmt gewesen …
Aus der Platte trat sehr langsam ein Gesicht hervor, fast als wäre es kein Stein, sondern Ton. Als ich die vertrauten Züge erkannte, erschauderte ich.
»Du bist ja die geborene Bildhauerin«, bemerkte ich. »Dabei habe ich von der Künstlerin, die in dir steckt, bisher gar nichts gewusst.«
»Als Kind konnte ich ganz gut zeichnen und mit Ton modellieren«, gab sie zögernd zu. »Ich hätte nicht gedacht, dass diese Erfahrung mal zu irgendetwas taugen würde. Jetzt improvisiere
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