Sturm: Roman (German Edition)
nicht sagen, was die verschiedenen Laute zu bedeuten hatten, die er jetzt vernahm, das Scharren und Klacken, das Kratzen und Knistern. Er hoffte nur, dass die Araber bald verschwinden würden, damit auch er und die beiden Frauen diesen fürchterlichen Ort endlich verlassen konnten.
»Was meinst du mit etwas?«, fragte er schließlich.
»Du würdest es nicht verstehen«, murmelte Kinah.
»Das käme auf einen Erklärungsversuch an.«
Kinah seufzte. »Also gut. Es gibt Dinge, die einen von Geburt an begleiten. Geschenke der Ahnen oder auch Flüche böser Geister.«
»Ich würde das genetische Abstammung nennen.« Dirk spürte, wie sich hinter ihm etwas regte. Eine große, fleischige Hand legte sich auf seine Schulter, und heißer Atem blies ihm in den Nacken.
»Rutsch mal rüber, Kleiner«, flüsterte Lubaya. »Ich will sehen, was die Kerle da treiben.«
Dirk hätte beinahe aufgeschrien. Konnte dieser wandelnde Fettkloß einen denn nie in Ruhe lassen?
Nichtsdestotrotz rückte er gehorsam ein Stück zur Seite und damit so nah an Kinah heran, dass es ihr wohl unangenehm wurde. Sie wich zurück – weiter, als nötig war. Dirk hielt die Luft an. Wollte sie ihm auf diese Weise signalisieren, dass sie keine Nähe mehr zu ihm wünschte?
Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie wieder an ihn heranrückte, ja sich fast an ihn schmiegte. Der warme Atem, den er nun im Ohr spürte, war ein Lebenshauch, den er genoss – und ein köstliches Versprechen.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du mich nicht verstehst«, wisperte Kinah. »Du weißt gar nicht, was es heißt, bewussten Kontakt zu seinen Ahnen zu haben.«
Während Lubaya ihren massigen Körper direkt neben ihm in Position brachte, kreisten Dirks Gedanken um die Brocken, die Kinah ihm zugeworfen hatte. Bewusster Kontakt mit den Ahnen … Nein, damit konnte er in der Tat nichts anfangen.
»Vielleicht hast du recht«, gab er zu. »Aber trotzdem: Was ist damals vor drei Jahren passiert?«
Kinah atmete tief durch, und er spürte jede Bewegung ihres Körpers – wie in alten Zeiten, wenn sie sich eng aneinandergekuschelt ganz ihren Empfindungen hingegeben hatten. »Es klingt wahrscheinlich verrückt«, begann Kinah, kurz bevor er glaubte, sie würde gar nicht mehr antworten. »Aber die Skulpturen, die ich geschaffen habe und die du in die Garage verbannt hast, sind so etwas wie mein Stamm. Oder vielmehr die Verbindung zu meinem Stamm, meinem Dorf, meinen Ahnen. Und vielleicht ist diese Verbindung gerade deshalb so stark, weil ich mein Dorf schon sehr früh verlassen musste und auf eine lange Reise ging.«
»Aha«, stieß Dirk hervor. Mehr fiel ihm dazu nicht ein.
»Ich bin entwurzelt, fühle mich aber zugleich mit der Tradition verbunden, mit dem alten Wissen«, fuhr Kinah fort. »Es ist nicht nur das Wissen. Es ist … als ob mich jemand leiten würde.« Sie zögerte einen Herzschlag lang. »Manchmal sehe ich in meinen Träumen und Visionen meinen Vater mir gegenüber an einem Lagerfeuer sitzen. Er ist alt, älter als in Wirklichkeit, denn er ist nicht nur er selbst, sondern verkörpert auch all die anderen Männer seiner Linie, die ihrem Stamm vor ihm als Schamanen gedient haben.«
Dirk zuckte zusammen. Nicht, weil sich Lubaya bewegte und ihm dabei ihren Ellbogen in die Seite rammte, sondern weil ihn Kinahs Worte an seine eigene Erfahrung erinnerten.
Auch er hatte sich mit einem alten Schamanen am Lagerfeuer sitzen sehen, auch er hatte dessen Weisheit und Verbundenheit mit der Vergangenheit gespürt.
»Ich verstehe dich besser, als du ahnst«, sagte er leise.
»Wie meinst du das?«, fragte Kinah überrascht.
Jetzt war es Dirk, der zögerte. »Das erste Mal passierte es auf der Fahrt vom Flughafen hierher. Ich bin kurz eingenickt. Und ich …« Er suchte nach Worten.
»Du hast ihn also auch gesehen«, sagte Kinah.
»Ja … nein … ich weiß nicht«, stammelte Dirk. »Es war verrückt. Und danach hatte ich noch eine zweite … Begegnung dieser Art …«
»Und das war hier in der Grotte.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Dies ist ein magischer Ort. Ein Ort, zu dem ich unser Haus in München nie wirklich machen konnte. Und trotzdem …« Sie schwieg für eine Weile, und als sie fortfuhr, klang ihre Stimme traurig. »Ich hatte immer gehofft, dass unser Haus für mich so etwas wie eine zweite Heimat werden könnte. Erinnerst du dich noch, wie wir es ausgesucht haben?«
»Wir?« Dirk schüttelte den Kopf. »Soweit ich mich entsinne,
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