Sturm: Roman (German Edition)
mit meinem Sohn zu tun?«
»Er ist sein Großvater?« Kinah hob mit einer hilflos wirkenden Geste die Arme. »Er hat ihn in Sicherheit gebracht und dafür gesorgt, dass er eine angemessene Erziehung erhält. Dass er im Sinne der Ahnen unterrichtet wird.«
»Das kann ich mir vorstellen!«, polterte Dirk. »Es hat ihm nicht gereicht, dass er dir Flausen in den Kopf gesetzt hat, nein, er musste das auch noch mit meinem Sohn tun.«
Kinah schlang fröstelnd die Arme um ihre Schultern. »Er hat ihn zum Schamanen ausgebildet. Zu seinem Erben und damit zum Erben einer langen Reihe von Schamanen. Hätte er das nicht getan, wäre die Ahnenkette unterbrochen worden.«
»Was natürlich fürchterlich gewesen wäre.« Dirk konnte nicht verhindern, dass seine Stimme vor Hohn triefte, und wenn er ehrlich war, wollte er das auch gar nicht. »Spinnst du eigentlich? Hast du mich etwa nur geheiratet, damit dein Vater Nachwuchs für seine bescheuerte Erbfolge bekommt?«
»Selbstverständlich nicht«, antwortete Kinah verärgert. Das Blitzen in ihren Augen verriet, dass sie – genau wie er – kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. »Ich habe doch gar nicht wissen können, dass ich Zwillinge zur Welt bringen würde! Obwohl mir mein Vater …« Sie verstummte.
»Ja?«, fragte Dirk.
»Obwohl mir mein Vater genau das in seinem Brief prophezeit hat.«
»Natürlich«, sagte Dirk bissig. »Dein Vater, der Über-Schamane. Der nicht nur über das alte Wissen verfügt, sondern auch über seine Tochter und seinen Enkelsohn. Der die Macht hat, seinen Schwiegersohn zu hintergehen und ihm das eigene Kind zu stehlen. Der die Regeln und Gesetze des Landes missachtet, in dem ich groß geworden bin. Der damit die Kette unterbricht, die mich mit meinem Vater und meinen Ahnen verbindet – um sich einmal deiner Ausdrucksweise zu bedienen.«
Kinah starrte ihn finster an und rutschte kurz darauf zur Seite, weil die Lisunov nach links kippte. Sie warf Jurij einen beunruhigten Blick zu, und Dirk hätte es ihr bestimmt gleichgetan, wenn er von seiner Erregung und Empörung nicht so abgelenkt gewesen wäre.
»Die plötzlich geplatzte Fruchtblase und überstürzte Hausgeburt waren also nichts weiter als eine Schmierenkomödie, um mir zu verheimlichen, dass ich Vater von Zwillingen bin«, stellte er fest.
»Wenn du es so ausdrücken willst.«
»Wie soll ich es denn sonst ausdrücken?« Dirk ballte die Fäuste. »Herrgott noch mal, Kinah – was hast du dir nur dabei gedacht? Erst nimmst du mir meinen Sohn weg und jetzt auch noch meine Tochter?«
»Ich habe dir unsere Tochter nicht weggenommen.« Kinahs Stimme klang gepresst, ihr Blick flackerte nervös. Immer wieder sah sie zu Jurij. Doch Dirk hatte anderes im Kopf, als sich zu erkundigen, wie es dem russischen Piloten ging oder was er gerade mit seiner alten Mühle anstellte, die sich möglicherweise auf ihrem letzten Flug befand. Er wollte, konnte und durfte sich nicht ablenken lassen.
»Wo ist er?« Als Kinah nicht sofort antwortete, fügte Dirk hinzu: »Mein Sohn. Den dein Vater mir gestohlen hat. Dabei hast du deinen Vater doch angeblich seit deiner Kindheit nicht mehr gesehen!«
»Habe ich auch nicht«, sagte Kinah. »Eine afrikanische Hebamme, die extra eingeflogen war, betreute die Geburt. Sie war es auch, die unseren Sohn zu seinem wahren Bestimmungsort gebracht hat.«
»Wahrer Bestimmungsort? Das wird ja immer schlimmer!« Dirk hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, außerdem wurde ihm von dem Geschaukel der Lisunov auch noch schlecht. »Aber lassen wir die Vergangenheit – ich will wissen, wo mein Sohn ist, wie er heißt und wie es ihm geht.«
»Er heißt Noah Kehinde. Und er ist in meinem Heimatdorf. Zumindest hoffe ich das, und ich hoffe auch, dass es ihm gut geht.«
»Noah Kehinde?« Dirk lachte humorlos auf. »Was ist das denn für ein Name?«
»Jeder Name hat eine Bedeutung«, erwiderte Kinah. »Viele Menschen kennen die wahre Bedeutung ihres Namens nicht, und etliche Namen passen nicht zu ihren Trägern, weil sie leichtfertig und ohne spirituellen Hintergrund vergeben wurden. Doch in Noahs Fall ist das anders.«
»Aha. Weil Noah heißt: der, der die Tiere vor der großen Flut rettet?«
»Deine Ironie ist vollkommen fehl am Platz, wenn es um deinen Sohn geht«, sagte Kinah scharf. »Noah heißt der Ruhebringer.«
»Der den Sturm zur Ruhe bringt?« Dirk hatte Mühe, ein Zittern zu unterdrücken. Der beißend kalte Wind, der durch die zerstörte Scheibe in das
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