Sturm: Roman (German Edition)
bevor er sich weiter vorbeugte und mit gierigen Schlucken zu trinken begann. Das Wasser schmeckte nach Mineralien und dem Gestein, über das es floss. Dirk trank, bis sein Durst gestillt war und das quälende Brennen in seiner Kehle nachließ. Dann schöpfte er noch mehr Wasser aus dem steinernen Becken und rieb es sich in Gesicht und Nacken. Die Kälte verscheuchte die Müdigkeit aus seinen Gedanken.
Das hatte er auch bitter nötig. Der Schlaf hatte ihn nicht erfrischt, sondern ihm ganz im Gegenteil erst bewusst gemacht, wie zerschlagen und erschöpft er wirklich war. Seine überstrapazierten Muskeln protestierten gegen jede Bewegung, und sämtliche Kratzer, Schrammen und Blessuren machten sich nun schmerzhaft bemerkbar. Zu allem Überfluss hatte seine rechte Hand, in die sich die Ratte verbissen hatte, wieder zu pochen begonnen, während der Menschenbiss in seiner Wade bereits seit einiger Zeit höllisch brannte. Das Schlimmste aber war der Druck in seinem Kopf, durch den er sich fühlte, als hätte er seit Tagen kein Auge zugemacht. Dabei hatte er dem Stand der Sonne nach zu urteilen mindestens acht oder sogar zehn Stunden lang geschlafen. Genau konnte er das nicht sagen, denn seine Armbanduhr war weg – dabei konnte er sich nicht einmal daran erinnern, sie abgelegt zu haben.
»Wo sind die anderen?«, fragte er, nachdem er sich ein Stück von Jurij entfernt auf den Boden gesetzt und die Arme um seine Beine geschlungen hatte, um das Zittern in den Griff zu bekommen, das von seiner Körpermitte ausgehend langsam seine Gliedmaßen erfasste.
Jurij sah nicht auf. Er tauchte den Flachmann erneut ins Wasser und bemühte sich, ihn bis zum Rand zu füllen, was ihm aber aufgrund seiner bebenden Hände nicht recht gelingen wollte. Er jetzt bemerkte Dirk, dass die zweite Flasche – diejenige aus der Halterung im Cockpit – neben ihm auf dem Boden lag. Sie war leer. Natürlich. Jurij hatte sich seinen Alkoholvorrat nicht eingeteilt, sondern schon alles in sich hineingeschüttet.
»Also, was ist?«, bohrte Dirk nach. »Wo sind Kinah und die anderen?«
»Nicht da«, brummte Jurij, ohne den Kopf zu heben.
»Ja, das sehe ich auch«, antwortete Dirk verdrießlich. »Aber wo sind sie?«
Jurij sah nun doch hoch, starrte ihn kopfschüttelnd an und konzentrierte sich dann wieder auf die vollkommen sinnlose Aufgabe, noch ein paar Tropfen Wasser mehr in die kleine Flasche zu füllen.
Dirk lag eine harsche Erwiderung auf der Zunge, doch da drangen Geräusche aus dem offenen Bereich des Innenhofes. Er richtete sich mühsam auf … und blickte Kinah entgegen, die mit langen, elastischen Schritten auf ihn zukam.
Dirk erstarrte, vollkommen überrascht von ihrem Anblick. Es war, als würde Kinah aus einer anderen, besseren Welt zu ihm kommen. Der Wind spielte mit ihrem glänzenden, frisch gekämmten Haar, und sie selbst wirkte so strahlend wie ein Frühlingstag. Abgesehen von dem Kratzer auf der Wange, den sie bereits in den Grotten an der marokkanischen Küste gehabt hatte, einer frisch verschorften Stelle am Kinn und den Rändern unter ihren Augen, die noch viel dunkler waren als ihre übrige Gesichtsfarbe, sah sie aus, als wäre sie an einem beliebigen Tag in Deutschland nur mal schnell Brötchen holen gegangen und kehrte nun gut gelaunt zum gemeinsamen Frühstück zurück. Selbst ihre Kleidung machte einen weniger ramponierten Eindruck als zuvor, obwohl ihre Hose an den Beinen so feucht war, als hätte sie sie nach einer gründlichen Wäsche zu früh von der Leine genommen.
Während Dirk Kinah wortlos anstarrte, begriff er, dass sie genau das getan haben musste. Als er sich auf dem harten Untergrund zusammengerollt hatte, um kurz darauf in einen unruhigen, von Albträumen geplagten Schlaf zu sinken, musste sie ihre Hose ausgewaschen haben. Wahrscheinlich hatte sie sie anschließend in der Sonne auf einem Felsen ausgebreitet. Dirk fand es unfassbar, dass man in einer Situation wie der ihren an so etwas denken konnte.
Aber Frauen waren eben anders als Männer.
»Wie geht es dir?«, fragte Kinah. Ihre Stimme klang besorgt. »Du wirkst ja noch erschöpfter als heute Morgen – hast du nicht gut geschlafen?«
»Ehrlich gesagt: nein«, gestand Dirk. »Du siehst allerdings einfach … umwerfend aus.«
Ein schwaches Lächeln huschte über Kinahs Gesicht. »Ich habe mich ein bisschen frischgemacht, während du geschlafen hast.«
»Ja, das merkt man. Warst du denn nicht müde? Hast du nicht geschlafen?«
»Doch, das war ich und
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