Sturm: Roman (German Edition)
nichts entgegenzusetzen hatte. Vielleicht, weil Akuyi tatsächlich das Recht hatte, alles zu erfahren, was mit dem Verschwinden ihrer Mutter zusammenhing.
»Also gut«, sagte er. »Ich war gestern Abend noch im Internet …«
»Hast du da eine Spur von ihr gefunden?«, unterbrach ihn Akuyi. Ihre tränenfeuchten Augen weiteten sich.
»Nein, leider …« Dirk rang immer noch mit sich. Vielleicht sollte er es doch besser nicht sagen. Aber was dann? War Verschweigen nicht fast so schlimm wie Lügen?
»Deine Mama hat Geld gebraucht für die Reise«, sagte er schließlich. »Und als ich auf das Konto geguckt habe … per Online-Banking, du weißt ja, das kann man zu jeder Tages- und Nachtzeit machen … da habe ich … sie hat …«
Akuyi bohrte nach. »Sie hat was?«
»Hätten wir nicht fest angelegte Ersparnisse, dann wären wir jetzt pleite«, murmelte Dirk. »Auf unserem normalen Konto ist kein einziger Cent mehr.«
Jetzt war es heraus.
Akuyi starrte ihn vollkommen fassungslos an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Das ist nicht dein Ernst.« Ihre Stimme klang plötzlich ganz kalt. »Du willst doch nicht im Ernst behaupten, dass Mama uns beklaut hat!«
Und dann hatte sie die Schale mit den Cornflakes von sich geschoben, war aufgesprungen, in ihr Zimmer gelaufen – und hatte die Tür so heftig zugeworfen, dass es wie ein Donnerschlag klang.
Genau diese Reaktion hatte Dirk befürchtet.
Als er jetzt wieder den Kopf hob, lief etwas über seine Wangen. Tränen. Der Schmerz, die Erschöpfung, die Erinnerung … Er hatte immer befürchtet, dass ihm am Ende nur die Erinnerungen bleiben würden. Aber er hatte nicht geglaubt, dass das Ende schon so bald kommen würde.
Der endgültige Zusammenbruch war nicht mehr fern. Vielleicht sollte er sich einfach zu Boden sinken lassen, statt sich, an die raue Felsenwand gelehnt, weiter mühsam aufrecht zu halten. Vielleicht sollte er einfach die Augen schließen und sich dem Schmerz ergeben, der ihn erfüllte. Es war wie das Ende einer großen Wanderung, die ihn durch unwegsames Gelände und schließlich in die Irre geführt hatte; wie ein Marsch durch die Wüste, der ihn ausgetrocknet und ihm die letzten Kraftreserven geraubt hatte, bis schließlich jeder Schritt zur Qual wurde – und der Gedanke an den Tod zur Erlösung.
Aber so einfach durfte er es sich nicht machen. Es ging nicht um ihn. Es ging um das Mädchen, das ihm zwei Tage nach Kinahs Verschwinden gegenübergesessen hatte und mit der schwierigen Situation besser fertig geworden war als mancher Erwachsene. Und es ging um Kinah selbst.
Wie eine Antwort auf seine Gedanken fuhr auf einmal ein frischer Wind durch die Grotte, kräftiger und zielgerichteter als die Luftwirbel, die ihn bisher genarrt hatten. Dirk schauderte. Der Wind brachte eine Kälte mit sich, die ihm das letzte bisschen Lebenswärme aus dem Körper zu treiben drohte. Aber er elektrisierte ihn auch.
Wo Luft derart schnell durchzog, dort musste es mehrere Zugänge geben, mindestens aber zwei. Das bedeutete, dass er hier keineswegs in einer Sackgasse feststeckte, wie er zuerst vermutet hatte. Konnte es sein, dass ihm das Schicksal noch einmal eine Chance bescherte?
Der Gedanke ließ ihn schwindeln – oder war es nur seine Erschöpfung? Er löste sich aus seiner Erstarrung und ging vorsichtig einen Schritt vorwärts. Dann fuhr er sich mit der Zunge über die rissigen, aufgesprungenen Lippen und atmete tief durch. Vor seinen Augen tanzten rote, flackernde Kreise mit verschwommenen Rändern, ein deutliches Anzeichen dafür, dass sein Kreislauf jeden Moment versagen konnte. Er musste sich langsam bewegen. Nur nichts überstürzen.
Sein hämmernder Herzschlag sprach allerdings eine ganz andere Sprache. Es konnte kein Zufall sein, dass ihn sein Unterbewusstsein in die Zeit direkt nach Kinahs Verschwinden zurückgeführt hatte. Die Erinnerung stand nicht nur für das, was ihn antrieb, sondern barg auch eine geheime Botschaft. Während des Gesprächs mit Akuyi war damals irgendetwas mit ihm passiert. Er hatte begriffen, welch eine fantastische Tochter er hatte und dass später einmal eine fantastische Frau aus ihr werden würde. Und er hatte das Gefühl nicht abschütteln können, dass in ihrem Gespräch ein Hinweis versteckt gewesen war. Ein Hinweis, der ihn auf die richtige Spur bringen würde – auf Kinahs Spur und auf den Grund, warum sie verschwunden war.
Dirks Gedanken verwirrten sich immer mehr, je angestrengter er versuchte, den Schmerz in seinem
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