Sturm: Roman (German Edition)
aggressiv und gleichzeitig so verletzlich, ganz anders als Kinah und ihr doch so unglaublich ähnlich, machte ihn sprachlos. Sollte er jetzt aufstehen, um den Tisch herumgehen und sie in die Arme nehmen? War dies der richtige Zeitpunkt? Gab es dafür überhaupt einen richtigen oder falschen Zeitpunkt?
»Bevor sie gegangen ist, hast du deswegen mir ihr gestritten«, setzte Akuyi nach. »Mit ganz bösen Worten.«
Dirk war bestürzt. Das stimmte nun überhaupt nicht.
»In der Nacht, als der Sturm kam …«
»In der Nacht, als du den Sturm gerufen hast!«, unterbrach ihn Akuyi.
»Was?«
Akuyi starrte ihn schweigend und vorwurfsvoll an.
»Was hast du gesagt?«, hakte Dirk nach. Aus irgendeinem Grund beschleunigte sich sein Herzschlag.
»Dass du mit ihr geschimpft hast«, erwiderte Akuyi.
»Ich meine die Sache mit dem Sturm.«
»Dann eben, dass du während des Sturms mit ihr geschimpft hast!« Akuyis Stimme wurde wieder schrill. »Diese ganzen Vorwürfe in deinem Kopf!«
»Wir haben aber nicht an diesem Abend gestritten«, sagte Dirk mühsam beherrscht. »Du hast ja recht, dass wir uns wegen der Skulpturen häufig in den Haaren hatten. Aber nicht an diesem Abend!«
»Warum hast du sie damit nicht einfach in Ruhe gelassen?«, fragte Akuyi bitter. »Warum musstest du immer wieder von den Skulpschturen anfangen?«
Weil ich Angst vor ihnen hatte, wäre die aufrichtige Antwort gewesen. Dirk konnte nicht beurteilen, ob Kinah eine große Künstlerin war oder nicht. Aber sie besaß die Begabung, einen Teil ihrer Seele in die Dinge zu legen, die sie schuf. Das war so bei ihrer Malerei wie auch bei allem, was sie an Gegenständlichem geschaffen hatte. In Kinah war so viel mehr als in all den anderen Menschen, die Dirk kannte –mehr Liebe und Verständnis, aber auch mehr Verzweiflung und Auflehnung.
Und das, was der düstere Teil in ihr schuf, war für ihn kaum zu ertragen. Manche ihrer Skulpschturen drückten so viel Angst und Trostlosigkeit aus, so viel Entsetzen und Abscheu, dass er es einfach nicht aushielt, sie in seiner Nähe zu haben.
»Ja, vielleicht hast du recht«, murmelte er. »Vielleicht hätte ich sie tatsächlich in Ruhe lassen sollen.«
»Ist Mama wirklich deswegen gegangen?« Akuyi hob die Hand wie eine Anklägerin und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Hast du sie mit deinem blöden Geschimpfe fortgejagt?«
Dirk zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Nein.« Als sich Akuyis Gesicht verfinsterte, fügte er hastig hinzu: »Das kann überhaupt nicht sein. Ich weiß nichts davon, und ich hätte es wissen müssen. Deine Mama und ich … wir haben sehr offen über alles geredet …«
»Das war nicht zu überhören«, sagte Akuyi böse. »Nur, dass es meist kein Reden war, sondern Streiten!«
»Die Streits waren nicht wichtig. Jedenfalls meistens nicht.« Dirk erkannte, dass er dabei war, sich zu verhaspeln. »Deine Mama muss einen anderen, einen ganz wichtigen Grund gehabt haben, zu gehen …«
»Was soll das denn heißen?«
Dirk erstarrte innerlich. Er hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde, dass er ihm nicht ausweichen konnte. Aber wie viel Wahrheit vertrug eine Dreizehnjährige?
Und wie viel Beschönigung?
»Was soll das heißen?«, rief Akuyi scharf.
»Das … das weiß ich auch nicht genau.« Dirk suchte verzweifelt nach der richtigen Formulierung. »Deine Mama muss … sehr verzweifelt gewesen sein. Und sehr in Eile. Sie hat ihren Reisepass mitgenommen.«
»Du hast in ihren Sachen rumgewühlt?«, fragte Akuyi entgeistert. »Du weißt doch, wie sehr Mama das hasst! Was, wenn sie gerade in dem Moment wiedergekommen wäre?«
Dirk betrachtete seine rechte Hand. Sie zitterte. »Ich glaube nicht, dass sie so schnell wiederkommen wird. Sie hat nicht nur ihren Pass mitgenommen, sondern auch ihre Kleider und Kosmetik. Das ist die gute Nachricht …«
»Die gute Nachricht?« Akuyi tippte sich an die Stirn. »Spinnst du? Was soll denn daran gut sein, dass Mama mit Pass und Klamotten abgehauen ist?«
»Das beweist zumindest, dass deine Mutter weder entführt wurde noch irgendeinen Unfall hatte. Sie ist freiwillig gegangen.«
»Und das nennst du gut?«, schrie Akuyi. »Das ist gut – dass Mama uns verlassen hat?«
»Nein, natürlich nicht, überhaupt nicht.« Dirk fuhr sich mit einer verzweifelten Geste durch die Haare. »Aber es bedeutet doch, dass sie lebt … dass es ihr gut geht!«
»Ohne uns geht es ihr gut?« Akuyi schüttelte wütend den Kopf. »Was für ein Quatsch!
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