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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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zweitausend Kilometer von hier entfernt. Wäre er ihr zufällig irgendwo in München über den Weg gelaufen, okay. Aber hier, in einer schwer zugänglichen Grotte am Ortsausgang eines marokkanischen Fischerdorfes? Das war grotesk.
    »Wenn du immer gleich eine Knarre ziehst, wenn dir eine Laus über die Leber läuft, bist du eine tickende Zeitbombe, mein Junge.«
    Mein Junge. Sehr witzig. Er war eindeutig älter als sie. Aber das schien im Augenblick überhaupt keine Rolle zu spielen.
    »Also, noch mal von vorn.« Der wandelnde Fleischklops drehte den Kopf und starrte ihn an. Aus der Grotte hinter ihnen drang genug Licht, dass Dirk Lubayas breites Gesicht erkennen konnte und die grimmige Entschlossenheit und Empörung dieser jungen Löwin, wie ihr Name angeblich übersetzt lautete.
    Es war ein Anblick zum Davonlaufen, und das hätte er auch gerne getan, wenn er es vermocht hätte. Er bedauerte es beinahe, dass er vor Biermanns Büro nicht abgedrückt hatte – zwei, drei Kugeln aus der Mini-Pistole wären sicherlich kaum tief genug eingedrungen, um sie ernsthaft zu verletzten, sondern irgendwo in dem natürlichen Panzer stecken geblieben, den sie sich angefressen hatte. Aber dann hätte sie sich jetzt irgendwo auskurieren müssen, statt ihn hier wie einen Lausejungen mit sich zu zerren.
    »Warum wolltest du mich niederschießen?«, donnerte Lubaya. »Wollte ich doch gar nicht!«, jammerte Dirk. »Ich wollte bloß zu Biermann. Damit er mir hilft.«
    »Ja, Birdie, die Oberflasche.« Lubaya richtete ihren Blick wieder nach vorn und hastete weiter. »Der schwirrt doch garantiert auch irgendwo hier herum! Genau wie sein nichtsnutziges rechtes Händchen. Ich frage mich nur, wie ihr es geschafft habt, hierher zu kommen. Aber das wirst du mir ja bestimmt gerne erklären, nicht wahr?«
    Dirk hatte nicht vor, Lubaya irgendetwas zu erklären. Ganz im Gegenteil, ihm brannten ein paar Fragen auf der Seele, auf die er unbedingt eine Antwort haben wollte.
    »Wohin …«, begann er.
    »Halt die Klappe«, sagte Lubaya. »Wir sind schon da.«
    Sie blieb so abrupt stehen, dass Dirk fast gegen sie getaumelt wäre. Das hätte ihm noch gefehlt. Er hatte keine Lust, der jungen Löwin näher zu kommen als unbedingt nötig.
    Zu seiner Überraschung ließ Lubaya ihn los und trat einen Schritt zur Seite. Dann war sie plötzlich verschwunden. »Komm schon«, schallte ihre Stimme hohl aus einer Öffnung in der Felswand hervor; von ihr selbst war nichts mehr zu sehen, noch nicht einmal ein Schatten.
    Dirk ruderte wild mit beiden Armen – zumindest versuchte er es, doch nur der linke Arm gehorchte ihm, während der rechte zuckte wie der gebrochene Flügel einer Ente, die einen verzweifelten Flugversuch unternahm. Dirk stolperte einen Schritt zurück, bevor er halbwegs sicheren Stand fand, die linke Schulter in den Wind gedreht.
    »Was ist?«, rief Lubaya aus dem nicht einmal kleinen Durchgang in der schwarzen, pockennarbigen Wand, den er bisher einfach übersehen hatte – genauso wie den schwachen Lichtschein, der von dort zu ihm drang.
    Dirk zögerte. Es war verlockend, dem mörderisch kalten Wind zu entfliehen, und außerdem hätte er auch nicht gewusst, wohin er sich sonst wenden sollte. Aber etwas in ihm warnte ihn davor, dem verführerischen Lichtschein zu folgen und sich darauf zu verlassen, dass ihn die Schwarzafrikanerin in ihr Herz geschlossen hatte und nichts weiter wollte, als ihm uneigennützig Hilfe angedeihen zu lassen.
    »Na los!«, drängte Lubaya. »Hier drinnen ist es warm und gemütlich.«
    Dirk seufzte schicksalsergeben, streckte die linke Hand vor und tastete über den Rand der Öffnung. Er fühlte sich rau und rissig an, aber er war nicht aus Stein, sondern aus Metall, daran konnte kein Zweifel bestehen. Irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, Eisen in den Felsen zu treiben und zu befestigen, wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten. Vielleicht hatte dieser Jemand sogar zuvor das Loch in die Wand gesprengt oder es zumindest erweitert, sodass eine Frau mit der Figur eines einjährigen Elefanten hindurchpasste.
    Der Wind heulte auf wie ein Rudel hungriger Wölfe, das sich zum Angriff versammelt hatte. Dirk stemmte sich gegen das Zerren des Sturms und starrte aus zusammengekniffenen Augen in den Gang hinein, der sich nach wenigen Metern in diffusem Grau verlor. Da war nichts, zumindest konnte er nichts erkennen, keine greifbarere Gefahr als den sich ständig steigernden Wind.
    Aber gerade das war es ja, was ihn beunruhigte.

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