Sturm ueber Cleybourne Castle
war, das Mädchen bald in Sicherheit zu wissen.
Inzwischen war Jessica der traurigen Pflicht nachgekommen, das Begräbnis vorzubereiten und die Adressen der Freunde und Bekannten zusammenzustellen, die von dem traurigen Ereignis benachrichtigt werden sollten. Dabei gab ihr der Gedanke einen Stich durchs Herz, dass die Veseys, die sie ja leider davon nicht ausnehmen konnte, sehr erfreut über diese Mitteilung sein würden. Nachdem sie die Briefe mit der Todesanzeige fertig gestellt hatte, verfasste sie noch ein Schreiben an den Duke of Cleybourne, in dem sie ihm die Situation erläuterte, während die Dienstboten mit betrübten Mienen schwarzen Krepp über den Türen befestigten, die Türgriffe umhüllten und die Spiegel zur Wand drehten. Jeden freien Augenblick aber verbrachte Jessica mit der trauernden Gabriela, um sie zu trösten.
Das Mädchen war blass und müde, aber ruhig, und unterdrückte seine Tränen bis zum letzten Moment der Beerdigung. Mit Kummer im Herzen beobachtete Jessica Gabys Verhalten, denn die Kleine hatte in ihrem kurzen Leben wahrhaftig bereits mehr Lasten zu tragen gehabt, als einer Vierzehnjährigen zuzumuten war. Mit acht Jahren hatte sie beide Eltern verloren, und nun musste sie sich auch noch von dem einzigen Verwandten trennen, der wie ein Großvater für sie gewesen war. Alles, was ihr nun noch blieb, waren Jessica und jener Fremde, der ihr Vormund werden sollte.
Trotz Gabrielas Schmerz und Trauer konnte Jessica indes nicht darauf verzichten, ihr den Grund für die überstürzte Abreise zu erklären. Natürlich erwähnte sie dabei nichts von Lord Veseys unzüchtiger Neigung zu jungen Mädchen, um das Kind nicht in Verwirrung zu bringen und zu erschrecken. Aber es war nicht nötig, den raschen Aufbruch zu rechtfertigen. Sobald Gabriela erfuhr, dass es geschehen sollte, um sie von Lord Vesey fern zu halten, drängte sie selbst auf Eile.
„Ich hasse ihn!" stieß sie heftig hervor. „Ich weiß, dass es Unrecht ist. Er ist viel älter als ich und verdient meinen Respekt. Aber er jagt mir Angst ein, weil er mich so ... so ansieht wie eine lauernde Schlange."
„Das ist verständlich", erwiderte Jessica, „und entschuldigt deine Abneigung. Im Übrigen ist er wirklich ein schlechter Mensch. Davon war auch dein Großonkel überzeugt. Falls du Lord Vesey wieder begegnest, sieh zu, dass du nie allein mit ihm in einem Raum bist, sondern gehe lieber schnell hinaus."
„Das verspreche ich."
Bei der Trauerfeier vergoss Leona wieder Unmengen ihrer melodramatischen Tränen, und Jessica fragte sich vergeblich, was sie damit bezwecken mochte, da der General doch tot war. Glaubte sie, den Notar, der das Testament eröffnen würde, damit beeindrucken zu können? Oder wollte sie sich nur nicht die Gelegenheit zu einer pathetischen Szene entgehen lassen?
Jessica selbst schluckte tapfer ihre Tränen hinunter und hielt die ganze Zeit Gabrielas Hand. Um des Mädchen willens musste sie stark sein. Aber immer wieder überwältigten sie die Erinnerungen an die Herzlichkeit und Wärme, die der General ihr entgegengebracht hatte, sodass am Ende doch noch dicke Tränen lautlos über ihre Wangen liefen.
Später versammelten sich dann die Angehörigen nebst dem Butler und der Haushälterin, um der Testamentseröffnung durch General Streatherns Anwalt, Mr. Cumpstone, beizuwohnen. Es überraschte Jessica nicht, dass der alte Herr Gabriela sein gesamtes Vermögen hinterlassen hatte und den Veseys nicht ein Penny zugesprochen worden war. Er hatte es ihr ja am Abend vor seinem Tode bereits angekündigt. Sie selbst erhielt zu ihrem Erstaunen das hölzerne Intarsienkästchen, das der General besonders geliebt hatte und das all seine Erinnerungsstücke enthielt, sowie eine bestimmte Geldsumme. Verwirrt starrte sie den Notar an und spürte dabei zugleich die wütenden Blicke der Veseys. Dabei war es kein großer Betrag im Vergleich zu Gabrielas Erbe. Lady Vesey würde es kaum als Taschengeld betrachten. Aber bei kluger Verwaltung war es dennoch genug; um Jessicas Unterhalt für den Rest ihres Lebens zu sichern.
Nie mehr wäre sie gezwungen, zu sparen und zu knausern. Nie mehr wäre sie auf fremde Hilfe angewiesen wie in den Jahren nach dem Tod ihres Vaters. In diesem Moment verspürte Jessica eine tiefe Liebe und Dankbarkeit für den Verstorbenen. Wie zu erwarten, protestierten Lord und Lady Vesey lauthals gegen den Inhalt des Testamentes.
„Ich bin sein leiblicher Großneffe!" schrie Lord Vesey aufgebracht. „Hier
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