Sturm über Freistatt
in diesem friedlichen Hafen, wo er und Gilla eins waren. Er stieß einen gewaltigen Seufzer aus. Anspannung, Furcht, ungelenkte Macht flossen aus ihm durch sie und in die Erde unter ihnen. Da gellte in der Ferne ein grauenvoller Schmerzensschrei. Lalo erstarrte und erinnerte sich an das Einhorn.
»Ich schaue mal nach«, erbot sich Wedemir. »Ich kann ziemlich schnell laufen, vielleicht kann ich es irgendwo anders hinlocken, wenn es in diese Richtung kommt.«
»Nein!« riefen Lalo und Gilla gleichzeitig. Lalo blickte seinen Sohn an, dessen Gesicht in der Morgensonne wie das einen jungen Gottes leuchtete. Aller Zorn der vergangenen Nacht wurde zur Qual. In der stolzen Kraft des Jungen steckte eine erschreckende Verwundbarkeit.
Er wandte sich an Gilla. »Als du mein Porträt betrachtet hast, hast du da einen Wahnsinnigen gesehen? Ich habe der Hälfte des Bösen in Freistatt Gestalt gegeben und es freigesetzt! Ich suchte Enas Yorls Hilfe, aber er war nicht da – Gilla, ich weiß nicht, was ich tun soll!«
»Enas Yorl ist nicht der einzige Zauberer in Freistatt, außerdem habe ich ihn nie gemocht«, sagte Gilla fest. Aber Lalo spürte ihre Furcht, und das erschreckte ihn mehr als alles andere.
Eine leise Stimme brach die Stille. »Was ist mit Lythande?«
Die wohlbekannte Besitzerin des Aphrodisiahauses empfand nicht mehr öffentliche Verantwortung als sonst jemand in Freistatt, doch dieses Ungeheuer, das sein Unwesen in den Straßen trieb, schaffte möglicherweise, was weder Ausgangssperre noch den Todestrupps gelungen war – es mochte sich sogar nachteilig fürs Geschäft auswirken. Und sie wußte, daß Valira ein ehrliches Mädchen war – sie hatte ihr sogar angeboten, sie im Haus aufzunehmen, doch das Mädchen hatte sich entschieden, ihr Kind außerhalb aufzuziehen. Jedenfalls hatte Myrtis sich sofort bereit erklärt, Valiras Freunden ihr Ohr zu leihen, nachdem das kleine Freudenmädchen ihre verwirrende Geschichte erzählt hatte. Und als sie sie gehört hatte, beschloß sie, sich bei Lythande für sie einzusetzen.
Aber Lalo hörte die Gereiztheit aus der kühlen Stimme hinter den roten Vorhängen, und kaum trat der Adept heraus, spürte er Widerstand selbst im Faltenwurf des dunklen Umhangs, der Lythandes hochgewachsene Gestalt verbarg. Der Lampenschein ließ Silberfäden in dem langen Haar glitzern und fiel auf schmale, fast hagere Wangen und eine hohe Stirn, auf der der blaue Stern des Ordens glühte. Lalo senkte den Blick, um dem des Zauberers nicht standhalten zu müssen.
Der Adept verachtete ihn zweifellos so sehr, wie er einen Bettler, der seine Farben gestohlen hatte und versuchte den Prinzen zu malen. Aber ein Bettler hätte sich höchstens lächerlich gemacht. Lalos unüberlegte Anwendung der Macht dagegen mochte sich als ihr aller Ende erweisen.
Unsicheres Schweigen herrschte, während der Adept es sich in dem geschnitzten Sessel bequem machte. Als er sich eine Pfeife anzündete und aromatischer Rauch aufstieg, zuckten Lalos Nasenflügel. Er rutschte nervös auf der Couch, und Gilla, die scheinbar völlig ruhig war, tätschelte seine Hand.
»Nun?« Der klangvolle Tenor des Adepten brach die Stille. »Myrtis sagte mir, ihr brauchtet meine Hilfe …«
Gilla räusperte sich. »Der Dämon in Einhorngestalt ist das Werk meines Mannes. Wir benötigen Eure Hilfe, ihn wieder loszuwerden.
»Wollt Ihr behaupten, dieser Mann sei ein Magier?« Lalo wand sich unter der Verachtung, die in dieser Stimme lag. »Myrtis!« rief Lythande, »warum hast du mich gebeten, meine Zeit mit einem hysterischen Weibsbild und einem Narren zu vergeuden?«
Verärgert entgegnete Gilla: »Kein Magier, Meister, sondern ein Mann mit einer Gabe, die ihm Enas Yorl verlieh, und einer anderen von den Göttern persönlich!«
Lalo zwang sich, den Blick zu heben. Er sah, daß der blaue Stern auf Lythandes Stirn zu glühen begann, als Gilla den Namen des anderen Zauberers nannte. Dieses Glühen beleuchtete das Gesicht auf unheimliche Weise und betonte die unergründlichen Augen.
Das Bild verschwamm, und einen Herzschlag lang sah Lalo unter diesen strengen Zügen ein sanfteres, doch nicht weniger entschlossenes Gesicht. Er blinzelte, schüttelte den Kopf, blickte Lythande erneut an und sah das Gesicht des Adepten das andere verschleiern, bis beide miteinander verschmolzen und sich nur noch eines vor ihm befand: das einer Frau, deren Geheimnis er erkannte wie einst das von Enas Yorl –
– eine unerbittliche und zeitlose
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