Sturm über Freistatt
er froh über diese Ablenkung, doch Lythandes Stimme schnitt durch die Atempause.
»Seid still, Weib! Es steht mehr als ein Leben auf dem Spiel, und die Zeit der Worte ist vorüber. Gebt ein wenig Eures Zorns an Euren Mann weiter – er wird ihn bald brauchen!«
Der lauten Zurechtweisung des Adepten folgten einige gemurmelte Worte. Gilla hörte ›Arbeit mit Amateuren‹ heraus, und ihre Ohren brannten.
Lalo seufzte. Er versuchte ein Gebet zu Ils mit den Tausend Augen zu sprechen, doch das Bild von Wedemir verdrängte alles andere.
Die Tür schwang auf.
Lalo zuckte zusammen und spähte auf den Schatten, der sich aus dem dunkleren Rechteck der jetzt offenstehenden Tür löste. Wedemir? Aber es war zu früh und zu still! Die Gestalt trat in die Stube, und Lalo erkannte den dunklen Umhang und das schmale, mürrische Gesicht Nachtschattens.
»Ich habe eine Nachricht erhalten …« Hanse starrte die Anwesenden ungläubig an. »Euch soll ich helfen?«
Seine Miene drückte Verachtung aus. Lalo ahnte, von wem diese Nachricht gekommen war, und sah einen Hoffnungsschimmer. Er stand auf.
»Ja, Ihr könnt uns helfen«, sagte Lythande ruhig. »Ihr habt miterlebt, wie sich hier gestern etwas selbständig machte. Helft uns, es heimzuschicken.«
»Nein!« Hanse schüttelte den Kopf. »O nein! Das Ungeheuer einmal zu sehen war schon einmal zuviel!«
»Shalpas Sohn …«, sagte Lalo heiser und sah, wie Nachtschatten zusammenzuckte.
»Nicht einmal für …«, begann Hanse, wirbelte plötzlich herum und griff nach seinen Messern. Laufschritte näherten sich und ein tiefes Brüllen.
»Rasch, wenn Euch euer Leben lieb ist …« Der Adept deutete. »Stellt Euch in den Kreis und rührt Euch nicht!«
Einen Augenblick starrte Hanse Lythande nur an, dann gehorchte er.
Aber Lalo hatte ihn bereits vergessen. Die Bank kippte hinter ihm um, als er an Cappen Varra vorbeischoß, um seinen Platz an der Wand einzunehmen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Gilla trotz ihres Gewichts flink zu der Stelle lief, die der Adept ihr zugewiesen hatte. Und als hätte sie sich allein durch Gedankenkraft von einem Ort zum andern bewegt, stand Lythande nun plötzlich, mit ihrem Stab in der Hand, zwischen Tür und Wand.
Da stürmte Wedemir herein. Er stockte flüchtig, als er sah, daß der Platz, den er hätte einnehmen sollen, bereits von Nachtschatten besetzt war, dann stolperte er in die Mitte des Kreises; Blut spritzte aus seinem Arm auf den Boden. Lalos Magen drehte sich um. Er langte nach dem Jungen und zog ihn zur Seite.
»Das Blut …«, krächzte er. »Hat das Einhorn dich erwischt?«
Wedemir schüttelte den Kopf und tupfte auf das Messer an seiner Seite. Lythande warf ihm einen raschen Blick zu.
»Ich riet ihm, sich eine geringfügige Wunde zuzufügen«, erklärte der Adept. »Das Blut eines Unschuldigen – und Eures Lalo –, der Geruch muß das Ungeheuer unwiderstehlich anziehen!«
Und schon füllte eine Schwärze, dunkler als die Schatten, die Tür, und zwei Augen glühten. Das Einhorn war gewachsen. Lalo schluckte, als es sich durch die Tür zwängte. Die schwarze Schnauze beugte sich über den Boden und nahm schnüffelnd die Blutspur auf. Wedemir schwankte, und Lalo sah, daß immer noch Blut auf den fleckigen Boden tropfte. Lalos inneres Auge sah die Lebenskraft von jedem einzelnen Tropfen ausstrahlen. Das war es wohl, wonach das Einhorn gierte!
Ils mit den Tausend Augen, blick herab und hilf mir! flehte er stumm. Gillas Gebet an Shipri vibrierte in der dicken Luft, und Lalo nahm zudem verschwommen Shalpas Macht wahr, Lythandes blaues Glühen, und Cappen Varra, der murmelnd seine nördlichen Götter anflehte.
Das Einhorn wich zurück. Lalo vermochte nicht zu erkennen, ob es auf zwei oder vier Beinen stand. Sahen diese roten Augen kraftlose menschliche Opfer, oder spürte es die in sie geleitete Macht der Götter? Das Ungeheuer durfte nicht verscheucht werden, obgleich Lalo vor Hoffnung erzitterte, daß es die Flucht ergreifen würde. Lythandes strenger Blick übermittelte ihm das Zeichen. Seine Zeit war gekommen – der Adept hatte seinen Teil getan, jetzt war er an der Reihe! Großer Ils! Er konnte es nicht! Doch irgendwie trugen seine Füße ihn von selbst zwischen Wedemir und das Ungeheuer.
»Einhorn!« Lalos Stimme klang wie das Krächzen einer Krähe. Er versuchte es noch einmal. »Einhorn, komm zu mir! Blut meines Blutes, hier ist, was du begehrst!«
Das Ungeheuer erzitterte unter Donnergrollen und tiefem Gelächter. Es
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