Sturm ueber Thedra
Zinne schon den ganzen Himmel ausfüllte und zu pulsieren begann.
Taghell war es nun in den Schluchten von Thedra. Ein ehrfürchtiges Raunen ging durch die Menge. Immer schneller pulsierte das Licht, bis kaum noch ein Wechsel wahrzunehmen war. Einzelne Hochrufe wurden laut, andere Menschen auf dem Platz fielen ein. Die Sängerin beendete ihr Lied. Die Luft war von einem Schwirren durchzogen, als flögen Millionen von Schwalben über die Stadt hinweg - und dann explodierte der Himmel über Thedra in lautlosem, vielfarbigem, kaltem Feuer.
Der Winter des Jahres dreiundzwanzig der Herrschaft Reos, König von Thedra und Estador, verlief für Teri in gewohnter Gleichförmigkeit.
Wenn in den Monaten um die Wintersonnenwende die eiskalten Nordstürme durch die Straßen von Thedra heulten, wurden sämtliche Öffnungen der einzelnen Wohnfelsen mit schweren Holztoren hermetisch verschlossen. Lediglich schmale Türen führten dann noch ins Freie und nur kleine Abzugslöcher in den schweren Torbalken sorgten für den nötigen Luftaustausch.
In dieser Zeit wurde ganz besonders auf die Einhaltung eines uralten Gesetzes geachtet, das besagte, jeder Bürger habe jeden Tag den Königsfelsen einmal komplett zu umrunden und dabei Hände und Gesicht ungeschüzt dem Tageslicht darzubieten.
Das war nun aber ein Fußweg von gut eintausend Mannslängen und mancher Bürger fluchte laut über die lästige Pflicht, sich täglich klamme Finger und eine kalte Nase holen zu müssen. Aber die Wachen waren unerbittlich. So zog denn täglich eine unübersehbare, schimpfende, zähneklappernde, sich schneuzende Prozession ehrenwerter Thedraner um den Amtssitz Reos, bewacht von ebenso jämmerlich frierenden Aufsehern, die strengstens darauf zu achten hatten, dass nicht etwa jemand die Hände in die Taschen steckte.
Dieser Erlass war allerdings keine besondere Demutsbezeugung vor dem Palast oder der Person des Königs. Vielmehr ging die Anwendung dieses Gesetzes schon auf Aganez, den legendären Magier, zurück.
Die ersten Bewohner Thedras, die Verbannten, hatten sich, um zu überleben, in natürlichen Höhlen eingerichtet, welche sie nach und nach zu richtigen Wohnstätten ausbauten. Schon nach wenigen Jahren war es so weit gekommen, dass einige Handwerker und Kaufleute ihre Werkstätten und Kontore tief im Felsen so gut wie gar nicht mehr verließen.
Aganez hatte nun beobachtet, dass diese Menschen überdurchschnittlich oft an Krankheiten litten, die bei Leuten, die öfter mal im Freien waren, nur sehr selten auftraten. Er hatte nach einigen Versuchen festgestellt, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der besonderen Krankheitsanfälligkeit und dem Mangel an Tageslicht bestand.
Besonders im Winter hatten die ersten Thedraner die Neigung gehabt, sich möglichst tief in ihre Höhlen zu vergraben. Und je besser sie sich zu schützen glaubten, umso schwächer wurden sie. Ständige Müdigkeit, Arbeits- und sonstige Unlust und Anfälligkeit für Infektionen aller Art waren ständige Gäste in der Höhlenstadt gewesen.
Da Aganez damals schon ein sehr alter Magier gewesen war und schon lange aufgehört hatte auf die Vernunft der Menschen zu bauen, verlegte er sich nicht erst lange aufs Bitten und Beraten, sondern veranlasste den damaligen König, sofort die tägliche Pflichtwanderung um den Königsfelsen einzuführen.
Der Erfolg hatte Aganez recht gegeben. Und wenn heute auch jeder Thedraner um den Sinn der kurzen Wanderung im Tageslicht wußte, so wurde das Murren davon doch nicht leiser. Ausgenommen von dieser Prozedur waren lediglich die Schwerkranken und die Neugeborenen, die in besonders witterungsgeschützten Höfen ihre tägliche Ration Tageslicht empfangen durften.
Teri machten die täglichen Spaziergänge nichts aus. Meistens tollte sie mit den anderen Kindern übermütig herum und rutschte auf ihren strohgefütterten Holzschuhen die steilen Passagen des Weges hinab. Sie freute sich über das Knirschen des Schnees unter ihren Sohlen und versuchte, mit großen Schritten in den Spuren der Erwachsenen zu laufen. Schnee, wie herrlich! Man konnte darauf herumschlindern, Stücke davon aufheben und daran lecken, oder ihn zu leichten, sternchensprühenden Geschossen formen, die im Ziel in einer weißen Fontäne zerplatzten.
Mindestens ebenso interessant fand Teri die Winterschule. Jedes Jahr im Winter wurden die Kinder des Formerfelsens drei Monate lang von einem Schulmeister intensiv unterrichtet. Teri mochte den Schulmeister. Geduldig
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