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Sturm ueber Thedra

Sturm ueber Thedra

Titel: Sturm ueber Thedra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Stuhr
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an ihre Strafe. Der Platz der Wachen war groß, und jeden Tag war eine ganze Karrenladung Flugsand zu beseitigen.
    Etwas ließ Ysell keine Ruhe; „Was wäre eigentlich geworden, wenn ich, na sagen wir mal, wirklich einen Komplizen gehabt und ihn an den Richter verraten hätte?“, wollte sie jetzt von dem Wächter wissen.
    „Du hattest einen Komplizen, das wollen wir doch mal festhalten“, erwiderte der Mann freundlich. Er führte Ysell jetzt am Arm und sein Griff war lange nicht so schmerzhaft wie auf dem Weg zum Richter; „und wenn du ihn verraten hättest, dann müsstest du jetzt sicherlich ein volles Jahr lang den Platz vor der Wache fegen.“

    „Ich werde noch verrückt!“, stöhnte Ysells Mutter und rang in offensichtlich größter Seelenqual die Hände. Mit fahrigen Bewegungen goss sie sich einen Becher Wein aus dem Krug ein, den ihr Mann mitgebracht hatte. „Ich werde noch verrückt!“
    Ysell saß schweigend und starr auf der Kante des Betts und schaute mit leerem Blick aus dem einzigen Fenster des Zimmers, in dem die Familie wohnte. Es wurde schon Abend, und sie konnte ihre Eltern, die am Tisch saßen, nur noch als Schattenbilder vor dem etwas helleren Geviert erkennen.
    „Du bringst deine Mutter noch ins Grab“, stellte der Vater mürrisch fest und sah Ysell böse an. Er hatte von seiner Frau gerade erfahren, was Ysell heute wieder angestellt hatte. „Du wirst unsere Familie noch in Verruf bringen!“
    Mit unbewegtem Gesicht saß Ysell da und erwartete die übliche Strafpredigt. Sie machte sich keine besonderen Sorgen, denn sie hatte desgleichen schon zu oft erlebt. Ihre Eltern regten sich immer wahnsinnig auf, wenn sie bei irgend etwas erwischt worden war, aber sie beruhigten sich auch wieder genauso schnell, wenn Ysell keine Widerworte gab. Neu war an der heutigen Situation nur, dass sie der Obrigkeit aufgefallen und vom Richter verurteilt worden war.
    „Das musste ja mal so kommen“, schwadronierte der Vater weiter „dass meine Tochter zur Verbrecherin wird! - Verhaftet - das hat es in unserer Familie überhaupt noch nie gegeben!“
    Weil du so ein unverschämtes Glück hast! dachte Ysell, denn sie wusste genau, dass der Alte auf seinen Arbeitsstellen mitgehen ließ, was immer er konnte. Sie sagte aber natürlich nichts und ihr Gesicht blieb leer.
    „Verhaftet und verurteilt“, stöhnte die Mutter, legte die Hand an die Stirn und trank gleich darauf in großen Zügen den Becher leer - gleich würde sie ruhiger werden, wusste Ysell, und gleich würde der Vater seinen üblichen Wutanfall bekommen. Ysell machte sich bereit, pflichtschuldig zusammenzuzucken, wenn die Faust auf den Tisch krachte.
    „Verdammt noch mal!“, brüllte der Vater auch schon los und hob die Hand. Der Schlag fiel heute schwächer aus als erwartet - kaum mehr als ein müdes „Pong“ war zu hören - trotzdem ruckte Ysell hoch und sah ihren Vater angstvoll an.
    „Ich habe es dir schon hundertmal gesagt!“, tönte der weiter. „Wenn du dich nicht zusammenreißen kannst, dann brauchst du dich an meinem Tisch auch nicht satt zu essen! Ein solcher Ausrutscher noch - nur ein einziger - und ich jage dich aus dem Haus! - Hast du das jetzt endlich begriffen?“
    Ysell versuchte, schuldbewusst auszusehen und nickte schüchtern. Dabei sah sie sich den Tisch an, von dem sie verstoßen werden sollte. - Ein roh gezimmertes, wackeliges Möbel, das schon solange Ysell denken konnte in Ordnung gebracht werden sollte. Die Tischplatte war glatt und fast sauber, denn der verschüttete Wein und die Reste der kärglichen Speisen wurden täglich mit einem Lappen weggewischt. Was auf dem Tisch stand, war auch nicht sehr verlockend: Ein paar schlecht ausgespülte Becher standen neben Wein- und Wasserkanne und ein Stück altbackenen Brotes wartete auf einem Holzbrett auf seinen Verzehr. - Ysells Abendbrot, auf das sie heute, als Zeichen ihrer Bußfertigkeit, allerdings verzichten würde.
    „Nein, nein, nein.“ Ysells Mutter hatte ihren Weinbecher wieder gefüllt, aber jetzt trank sie nicht mehr so hastig und auch ihre Hände zitterten nicht mehr. „Da tut man alles für das Kind, und dann ...“ Ihre Stimme erstarb in einem Schluchzen.
    „Sie wird’s nicht mehr tun“, brummte der Vater ihr jetzt beruhigend zu. Bei seiner Standpauke hatte er sich vollständig verausgabt und brauchte nun eine Stärkung. Auffordernd hielt er seiner Frau den leeren Becher hin und ließ sich einschenken. „Ich werde noch verrückt“, seufzte die Mutter

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