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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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die Nachtschatten erkennen?«
    Die Menge wurde still. Ihre Blicke richteten sich auf Craymorus.
    Ich weiß es nicht, wollte er sagen, aber das wollten sie nicht hören.
    »Es gibt einige Hinweise, die vielversprechend sind«, sagte er.
    »Stimmt es, dass sie ihr Fell innen tragen?«, rief ein Mann.
    »Das wird vermutet, aber …«
    Sie ließen ihn nicht ausreden. Fragen prasselten wie Hagelkörner auf ihn ein.
    »Stimmt es, dass Krähenfedern sich weiß färben, wenn man sie damit berührt?«
    »Stimmt es, dass sie sich um Mitternacht im Schlaf verwandeln?«
    »Stimmt es, dass kein Blut, sondern Sand in ihren Adern fließt?«
    »Stimmt es, dass man sie nur in Blindnächten töten kann?«
    Er beantwortete ihre Fragen, so gut es ging, bis die Schmerzen in seinen Beinen ihn zwangen, in die Sänfte zurückzukehren. Er ließ die Vorhänge offen. Viele wollten seine Hand schütteln oder winkten ihm zu, als er das Viertel verließ.
    Erleichtert atmete er die frische Luft in den Hügeln vor der Stadt ein. Mellie strich mit der Hand über seinen Arm und lächelte. Ihre Wut schien verflogen zu sein. »Habt Ihr gesehen, wie sehr man Euch respektiert und wie sehr man Euer Wissen schätzt?«, fragte sie.
    »Ja, das habe ich.« Es war ein erhebendes Gefühl gewesen, eines, das er noch nie zuvor gespürt hatte. Ein Teil von ihm sehnte sich danach, es noch einmal zu erleben, ein anderer Teil fragte sich, ob sie ihm nur vertraut hatten, weil er ein Krüppel war, einer von ihnen, ein Ausgestoßener, der es bis nach oben geschafft hatte.
    »Meint Ihr, Ihr könntet noch mehr Wissen sammeln, wenn Ihr wieder in den Keller gehen würdet?«
    Die Frage kam so unerwartet, dass Craymorus zusammenzuckte.
    »Die Antworten, die ich erhalte, sind ausreichend«, sagte er und wandte sich ab.
    In der Nacht, als sie nebeneinander auf dem großen Bett lagen und die Schmerzen in seinen Beinen ihn wieder einmal um den Schlaf brachten, dachte er über Mellie nach und über das Leben, das sie geführt haben musste. Sie tat ihm leid, aber er bewunderte sie auch. Sie war stärker als er, stärker als ein Mann, der es noch nicht einmal wagte, sich seinem eigenen Hass zu stellen.
    Und wenn ich es doch tue?, dachte er und setzte sich auf. Er griff nach seinen Krücken, die neben ihm an der Wand lehnten. Mellie seufzte leise im Schlaf, als er das Bett verließ. Sie war daran gewöhnt, dass er nachts aufstand und sich ans Fenster setzte, wenn er nicht schlafen konnte.
    Leise legte er die Beinschienen an, zog Hemd und Hose über, dann zog er sich auf nackten Füßen aus dem Zimmer. Einige Sklaven schliefen in den Nischen der Gänge, ansonsten war die Burg um diese Zeit menschenleer. Niemand hielt ihn auf, niemand sprach ihn an, als er die Tür zum Kerker öffnete und eintrat.
    Ein Wachposten nickte ihm zu. Craymorus erwiderte den Gruß und zog sich über die Stufen nach unten. Er spürte die Blicke des Soldaten im Rücken, aber der Mann bot ihm keine Hilfe an. Craymorus war froh darüber. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Ein Wachposten öffnete die Tür für ihn. Craymorus trat ein, blieb jedoch in dem schmalen dunklen Gang stehen, als ihm jemand entgegenkam.
    »Mach mal Platz da hinten, wir müssen hier durch«, rief ihm der hintere der beiden Männer zu. Sie trugen etwas zwischen sich. Der vordere drehte sich um und flüsterte ihm etwas zu.
    »Verzeihung, Herr«, sagte der hintere hastig. »Ich hatte Euch nicht erkannt. Wartet, wir geben den Weg frei.«
    »Schon gut.« Craymorus drehte sich auf seinen Krücken um. »Kommt ruhig.«
    »Danke, Herr.«
    Er blieb neben dem Wachposten stehen und winkte die Männer heran. Fackellicht erhellte ihre Gesichter, als sie näher herankamen. Sie trugen die Lederschürzen von Folterknechten. Craymorus warf einen Blick auf ihre Last. Es war ein Mensch, eine alte Frau, deren Blößen und Folterwunden man notdürftig mit einem Stück Stoff bedeckt hatte. Lichtschein brach sich in blinden toten Augen.
    Er wandte den Blick ab. Sein Herz schlug schneller. Die beiden Männer gingen an ihm vorbei und bogen links in einen anderen Gang ab.
    Sie haben sie umgebracht. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und atmete tief durch. Der Wachposten warf ihm einen kurzen Blick zu.
    »Ich komme später wieder«, sagte Craymorus. Seine Stimme überschlug sich vor Nervosität. Er zog sich die Treppe hoch. Seine Schultern und Beine schmerzten so stark, dass es ihm die Tränen in die Augen

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