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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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trieb. Der Wachposten am oberen Treppenende hielt ihm die Tür auf.
    »Da unten verliert man schnell die Nerven, Herr«, sagte er in einer merkwürdigen Mischung aus Schadenfreude und Mitleid.
    Craymorus schob sich an ihm vorbei den Gang hinunter. Der Weg bis zu seinem Zimmer schien sich zu dehnen. Einige Sklaven wachten in ihren Nischen auf, als er sich keuchend an ihnen vorbeischleppte. Er fiel fast in sein Quartier hinein und schlug die Tür hinter sich zu.
    Mellie setzte sich erschrocken im Bett auf. Im Mondlicht wirkte ihre Haut beinahe durchsichtig.
    Craymorus schluckte. »Du musst sofort weg. Sie haben Eani ermordet.«
    »Was?«
    »Ich war unten in den Kerkern.«
    »Was hast du in den Kerkern …«
    »Lass mich ausreden.« Craymorus holte Luft. »Sie haben sie gefoltert und umgebracht. Es tut mir leid, du musst so schnell wie möglich weg von hier. Wer weiß, was sie ihnen alles erzählt hat.«
    Mellie schüttelte den Kopf. »Wir gehen zusammen. Du bist genauso in Gefahr.« Ihre Stimme klang verschlafen.
    Craymorus lachte leise. »Sie werden mir nichts tun. Sie brauchen mich wegen der Nachtschatten. Mach dir keine Sorgen.«
    Es klang überzeugend, auch wenn er alles andere als überzeugt war, aber er konnte sie nicht begleiten. Er hätte sie nur aufgehalten.
    Craymorus warf einen Blick aus dem Fenster, während sich Mellie ein Kleid überwarf. Es standen Wachen am Tor. Er wusste nicht, ob sie Mellie durchlassen würden, ob sie bereits neue Befehle erhalten hatten.
    »Nimm dir meinen Geldbeutel. Schleich dich in den Hof und warte dort. Ich lenke die Wachen ab.«
    Sie fragte nicht nach. Sie nahm seinen dunklen Umhang und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. Er umarmte sie, als sie vor ihm stehen blieb.
    »Lass dich nicht umbringen«, flüsterte sie. »Bitte.«
    Er küsste ihre Stirn, dann ihren Mund. Sie schmeckte kühl wie die Nachtluft. »Reite nach Noderland, finde die Tochter der Fürstin. Wenn wir sie retten, retten wir auch uns.«
    Sie nickte. Einen Moment blieb sie stehen, als wolle sie noch etwas sagen, dann wandte sie sich ab und verließ das Zimmer.
    Craymorus klemmte die Krücken unter seine Schultern und griff nach der Weinkaraffe auf dem Tisch. Mit tiefen Schlucken leerte er sie.
    Wie naiv wir doch waren, dachte er, als der Wein über sein Kinn rann. Natürlich hatte die Garde der Fürstin verraten, wo sie gewesen waren, und natürlich war sie dem Grund dieses Besuchs nachgegangen – rasch und skrupellos, wie er es hätte wissen müssen. Wer es aus einer verschlafenen Bergprovinz bis auf den Fürstenthron von Westfall brachte, wusste seine eigenen Interessen zu wahren.
    Der Wein und die Erschöpfung ließen ihn taumeln. Craymorus verließ das Zimmer und zog sich auf die Haupttreppe zu, die zum Eingang führte. Es war eine Marmortreppe mit breiten flachen Stufen. Er war sie schon ein Dutzend Mal gegangen. Auf ihr fanden seine Krücken mühelos Halt.
    Nicht an diesem Abend, dachte er. Ihm wurde schwindelig, als er an der obersten Stufe stehen blieb. Die Zierrüstungen, die an beiden Seiten standen, schienen ihn aus den dunklen Schlitzen ihrer Helme zu beobachten. Er stützte sich schwer auf seine Krücken, dann lockerte er die Metallschienen an seinen Beinen. Der Wein stieß ihm sauer auf.
    Er blieb stehen und breitete seine Arme mit den Krücken aus. Ihre Spitzen berührten die Rüstungen. Seine Beine zitterten einige Atemzüge lang unter der Belastung, dann knickten sie ein. Er schrie, als er nach vorne fiel, dem kalten, weißen Marmor entgegen. Rechts und links von ihm wurden die Rüstungen scheppernd von ihren Podesten gerissen.
    Er überschlug sich. Seine Krücken rutschten an ihm vorbei. Der Lärm der Rüstungen war lauter als seine Schreie.
    Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis er endlich liegen blieb. Die Welt drehte sich. Er hörte laute Rufe. Gesichter tauchten über ihm auf. Craymorus erkannte die Uniformen der Wachsoldaten und schloss die Augen.

 
    Kapitel 22
     
    Neugier ist den Somern fremd. Oft kommt es vor, dass man einen Mann trifft, der nicht weiß, was jenseits der Hügel liegt, die sein Dorf umgeben, und auch nichts an diesem Umstand zu ändern gedenkt. Was sollte es dort schon geben, so scheint er zu denken, das die Mühen der Reise wert sein könnte?
    Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
     
     
    Er hatte vergessen, dass er ein Gefangener war, doch jetzt, da er sein Gefängnis verlassen wollte, bemerkte Gerit die Mauern und

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