Sturm
tauchte über ihr auf. »Ich bringe Euch in Sicherheit.«
»Nein.« Sie wollte sich gegen Jonans Griff wehren, aber ihre Arme waren zu schwer. »Wir müssen Vater finden.«
Seine Stimme wurde dumpfer, leiser. »Ich habe ihn längst gefunden.«
Schwärze hüllte Ana ein.
Er hatte gesehen, wie sein Vater starb. Mit dem Rücken zu seinen Angreifern, die Hände in das Holz der verschlossenen Tür gekrallt, war er den Tod eines Feiglings gestorben. An nichts anderes konnte Gerit denken. Er sah das Bild, wann immer er die Augen schloss.
General Norhan hatte ihn gerettet, war sterbend zu ihm gekrochen, um ihn mit seinem eigenen Körper zu decken. »Beweg dich nicht«, hatte er geflüstert, und so war Gerit liegen geblieben, eingehüllt vom Eisengeruch des Blutes, umgeben von den röchelnden Lauten des Todes, niedergedrückt von einem Sterbenden.
Er wusste nicht, wann er sich befreit hatte und wie er auf das Dach gekommen war. Beim einen Lidschlag hatte er noch auf dem Boden gelegen, beim nächsten saß er bereits auf dem Dach. Eine Decke lag neben ihm. Mit zitternden Händen griff er danach und legte sie sich über die Schultern. Die bluttriefende Kleidung klebte an seinem Körper. Es war kalt.
Ich werde hier oben bleiben, dachte er. Ich werde Ratten fangen und Regenwasser trinken. Niemand wird mich finden.
Der Hof tief unter ihm war verlassen. Rauch zog träge aus einem der Gesindehäuser. Gerit sah Flammen hinter den Fensterlöchern, aber niemanden schien das Feuer zu kümmern. Nach einer Weile erlosch es von selbst.
Hufschlag riss ihn schließlich aus seinem Dämmerzustand. Gerit drehte den Kopf und blickte zu den Stallungen. Zwei Pferde trabten heraus. Im Licht der Monde hob sich der schwarz gekleidete erste Reiter scharf von der roten Stalltür ab. Er führte das zweite Pferd an den Zügeln. Eine Frau war mit Seilen daran festgebunden. Ihr Kopf war hinter dem Hals des Pferdes nicht zu sehen, aber Gerit bemerkte sofort das Kleid, das goldbestickte weiße Kleid, das sein Vater – gestorben wie ein Feigling – in Braekor hatte anfertigen lassen.
Er stand auf. Die Decke rutschte von seinen Schultern. »Ana!«, rief er. »Ana!«
Ana bewegte sich nicht, aber der vordere Reiter zügelte sein Pferd. Er blickte zum Dach empor. Das Pferd tänzelte nervös.
Gerit hob den Arm. »Ich bin hier.«
Der Reiter zögerte, dann wandte er sich ab und gab seinem Pferd die Sporen. Im Galopp ritt er durch das Tor, das zweite Tier hinter sich herziehend.
Gerit sah ihm nach, bis er in der Nacht verschwand.
»Lasst mich nicht allein«, sagte er leise. »Bitte lasst mich nicht allein.«
Kapitel 3
Nicht die Schwerter der Fürsten und Könige regieren in Somerstorm mit gnadenloser Allmacht, sondern das Wetter. Jedem Reisenden sei geraten, die Zeit seines Besuchs mit Bedacht zu wählen. Im Winter mag er leicht Opfer des Schnees werden, aber dies kann ihm auch zu jeder anderen Jahreszeit passieren. Sturm, Regen und Kälte sind die Gegner, denen er sich stellen muss, doch bleibt er dafür von einer anderen Plage verschont, denn Banditen sind in diesem Land so selten wie Sonnentage. Wer wäre auch so unvernünftig, sich den Elementen auszusetzen und einem Reisenden aufzulauern, wenn man gefahrlos die Leichen anderer, weniger glücklicher Reisender plündern kann?
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
Ana wusste nicht, wann es Morgen geworden war, aber plötzlich blinzelte sie in helles Sonnenlicht. Überrascht bemerkte sie, dass sie Zügel in den Händen hielt und dass die Welt hin und her schaukelte. Sie saß auf einem Pferd.
Bilder aus der vergangenen Nacht standen reglos wie Monumente in ihrem Gedächtnis, isoliert von den Ereignissen, die sie mit ihnen verband. Sie betrachtete sie, aber sie wirkten weit entfernt, so als habe ein anderer sie erschaffen und in ihren Geist gesetzt.
Sie richtete sich im Sattel auf. Die Landschaft, die sie sah, bestand aus zerklüfteten Felsen, grünem Moos und gelbem Gras, das vom Wind gegen die Hügel gedrückt wurde. Es roch nach Salz.
Ich bin nicht weit vom Meer entfernt, dachte Ana. Was mache ich hier?
»Geht es Euch besser, Mefrouw?«
Ana drehte sich erschrocken um. Hinter ihr, keine fünf Schritte entfernt, ritt Jonan auf einem Rappen. Er trug einen langen Mantel aus Ziegenfell.
»Das ist Laws Mantel«, sagte sie. Der Stallmeister trug ihn bei jedem Ausritt. Er hatte ihn vom Fürsten als Belohnung für etwas erhalten, an
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