Sturm
denen sie angeblich aus der Festung geflohen waren. Wäre es nicht viel wahrscheinlicher, wenn es Jonans Komplizen gewesen wären, Verbrecher aus dem Orden, dem ihr Vater so leichtsinnig vertraut hatte? Er wartete sicher bereits voller Sorge mit ihrer Mutter und Gerit in der Festung und fragte sich, weshalb die Soldaten seine Tochter nicht fanden.
Ana ballte die Hände zu Fäusten. Eine Bewegung würde reichen, um die Wahrheit herauszufinden.
Vorsichtig hob sie den Kopf.
Jonan warf ihr einen warnenden Blick zu, aber sie beachtete ihn nicht weiter. Mit einer Hand schob sie die Grashalme auseinander und sah nach oben.
Vier Männer waren es, die auf Pferden den Pfad entlangritten. Sie waren keine zehn Fuß von ihr entfernt, nahe genug, um ihre schlammverschmierte Kleidung und den Ausdruck in ihren Gesichtern zu erkennen. Es waren keine Soldaten, das bemerkte Ana sofort. Sie trugen keine Uniformen, sondern graue Wolle und Leder. Zwei von ihnen trugen breitkrempige, fremdartig wirkende Hüte, die anderen beiden Lederkappen, die eng am Kopf anlagen und unter dem Kinn verschnürt waren.
Auf den ersten Blick hatte Ana die Männer für Brüder gehalten, doch jetzt sah sie, dass sie sich nicht ähnlich sahen. Einer war groß, bärtig und mehr als vierzig Winter alt, einer klein und gedrungen, der dritte kräftig mit fleischigem rotem Gesicht und der vierte schließlich schmal, mit einer Narbe, die vom Ohr bis zur Kehle verlief. Trotzdem verband sie etwas, das spürte Ana, mehr als die Kameradschaft von Soldaten, etwas anderes als das gleiche Blut einer Familie.
Sie verharrte, als der Vernarbte plötzlich den Kopf drehte und in ihre Richtung blickte. Er hob die Nase in den Wind wie ein Raubtier. Die Bewegung hatte etwas seltsam Unmenschliches. Einen Moment blieb er mit gestrecktem Hals auf seinem Pferd sitzen, dann senkte er wieder den Kopf und wischte sich den Regen aus dem Gesicht.
Es klirrte, als er seine Hand wieder auf die Hüfte legte, und Ana sah, dass ein Schwert in seinem Gürtel steckte. Sie starrte darauf, dann glitt ihr Blick zu den anderen. Jeder von ihnen trug ein Schwert, im Gürtel des Ältesten steckten sogar zwei.
Sie ließ den Kopf zurück auf die Schulter des Pferdes sinken. In der Ferne verhallte der Hufschlag langsam.
Jonan stand auf und zog seinen Rappen an den Zügeln hoch.
»Was habt Ihr Euch dabei gedacht?«, fragte er. »Sie hätten uns beinahe erwischt.«
Ana beachtete ihn kaum. »Sie trugen Schwerter«, sagte sie tonlos. »Alle trugen Schwerter, hast du das gesehen? Sie müssen doch wissen, dass das verboten ist. Mein Vater hat vor Jahren angeordnet, dass nur Soldaten Schwerter tragen dürfen. Wieso tun sie das trotzdem und so ganz ohne Furcht? Man wird sie hinrichten, wenn man die Waffen sieht. Ihr Besitz wird an meinen Vater fallen. Sie werden alles verlieren.«
Tränen liefen über ihre Wangen. Sie wusste nicht, weshalb sie um diese Fremden weinte, aber der Gedanke, dass sie alles verlieren würden, erschütterte sie.
»Es wird nichts für ihre Familien übrig bleiben, gar nichts. Und das nur wegen ein paar Schwertern. Verstehen sie das denn nicht?«
Sie sah Jonan an. »Warum tragen sie Schwerter?«
Er erwiderte ihren Blick. Seine Stimme war sanft, als er ihr antwortete. »Weil es niemanden mehr gibt, der es ihnen verbietet.«
Sie warteten, bis es aufhörte zu regnen und die Sonne hoch am Himmel stand, erst dann ritten sie weiter. Die Patrouille war nicht zurückgekehrt, und sie hatten die ganze Zeit über keinen anderen Menschen gesehen. Mehr als ein Dutzend Mal hatte Ana zu der Frage angesetzt, die sie am meisten beschäftigte, genauso oft hatte sie gezögert und sie schließlich verworfen. Doch jetzt, als sie wieder auf Jonans Rücken blickte, fand sie endlich den Mut, sie zu stellen.
»Wer hat die Festung überfallen, Jonan?«
Er zuckte zusammen und räusperte sich. Sein Pferd schnaubte.
»Wie meint Ihr, Mefrouw?«, fragte er.
Ana dachte an die dunklen Ringe, die sie unter Jonans Augen gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte er seit ihrer Flucht nicht mehr geschlafen.
»Der Überfall auf die Festung. Wer hat ihn begangen?«
»Es war sehr dunkel, ich konnte sie nicht richtig sehen.«
Das war nicht die Antwort, die sich Ana erhofft hatte.
»Waren es Soldaten aus einem anderen Fürstentum?«, fragte sie weiter.
»Das würde niemand wagen. Bestimmt waren es Gesetzlose, die sich als Dienstboten und Gaukler getarnt einschlichen. Euer Reichtum hat viele Neider.«
»Das
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