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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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Dämmerlicht. Eine Weile blieb sie auf dem Rücken liegen und sah hinauf in den grauen Himmel. Die Welt sah anders aus als am Tag zuvor, kälter, aber auch klarer. Ich habe keinen Menschen je gekannt, dachte sie, weder meine Eltern, meinen Bruder, Jonan und schon gar nicht mich selbst.
    Sie wartete auf Tränen des Selbstmitleids, aber ihre Augen blieben trocken. Auch das hatte sich geändert.
    Ana setzte sich auf.
    Jonan saß einige Schritte von ihr entfernt auf einem umgestürzten Baumstamm. Er hielt sich steif aufrecht, so wie jemand, dem jede Bewegung Schmerzen bereitete. Der Schnitt in seiner Wange war verkrustet, seine anderen Verletzungen unter der frischen Kleidung nicht zu sehen. Sein Pferd graste neben ihm.
    Es überraschte sie nicht, dass er sie gefunden hatte.
    »Sind sie tot?«, fragte sie.
    »Der Zwerg ist entkommen, die anderen sind tot.« Er senkte den Kopf und betrachtete einen kleinen Zweig, den er zwischen den Fingern drehte. »Ich …«
    »Du bist verletzt«, sagte Ana, bevor er weiterreden konnte.
    »Das wird heilen. Hör zu, ich …«
    »Nein, ich werde nicht zuhören.« Ana stand auf und legte ihrem Pferd den Sattel auf den Rücken. »Ich entbinde dich von deinem Schwur, mich zu beschützen. Du wirst deiner Wege gehen und ich meiner.«
    Er sah nicht auf. »Sie werden dich töten.«
    »Das muss dich nicht mehr interessieren, so wie dein Schicksal auch mich nicht mehr interessiert.« Ihre Stimme brach. Sie hasste sich dafür. »Geh. Geh zu deinem eigenen Volk.«
    »Die Nachtschatten sind nicht …« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Wir wären beide gestorben, wenn ich es nicht getan hätte. Das weißt du.«
    Du hättest es mir gestehen müssen, wollte sie sagen. Du hättest mir vertrauen müssen so wie ich dir.
    Aber sie schwieg, weil sie nicht wusste, ob sie die Tränen zurückhalten konnte, wenn sie ihm das sagte.
    Jonan schien zu erkennen, dass er die Antwort, auf die er wartete, nicht erhalten würde. Seine Blicke glitten über Anas Gesicht, so als wolle er sicherstellen, dass er nichts vergessen würde. Er öffnete den Mund, aber Ana wandte sich ab, bevor er etwas sagen konnte.
    »Geh«, sagte sie.
    Jonan schwieg einen Moment, dann griff er hinter sich und warf einen gefüllten Beutel auf den Weg. Etwas darin klimperte.
    »Kleidung und Geld der Nachtschatten«, sagte Jonan.
    Sie nahm den Beutel und band ihn am Sattel fest. »Und nun geh. Folge mir nicht, oder ich schwöre bei den Flussgöttern, dass ich dich verraten werde.«
    Er stand steif von dem Baumstamm auf.
    »Wie Ihr wünscht, Mefrouw«, sagte er.
    Sie zog den Sattel fest. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er langsam zu seinem Pferd hinkte und aufsaß. Dann ritt er auf der Straße nach Osten davon. Sie rechnete fest damit, dass er sich noch einmal umdrehen würde, aber das tat er nicht. Nach einer Weile verschwand er zwischen den Bäumen.
    »Ich bin die Fürstin von Somerstorm«, flüsterte Ana, als sie ihn nicht mehr sehen konnte. Dann lauter: »Ich bin die Fürstin von Somerstorm, die Fürstin von Somerstorm.«
    Die Fürstin von Somerstorm. Das klang nach einer Frau, die niemanden brauchte, die bekam, was sie wollte, und sich nahm, was man ihr zu verwehren versuchte.
    Das klang nach einer Frau, die Ana sein konnte.
    Sie saß auf und wandte ihr Pferd nach Westen.

 
    Kapitel 27
     
    Wer auf dem Rücken eines Pferdes reist, braucht Geduld und kräftige Schenkel; wer sich auf das Deck eines Schiffs begibt, braucht Gottvertrauen und einen guten Magen.
    Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1
     
     
    In Braekor kaufte Korvellan zwei Pferde von einer Händlerin. Das war das einzige Mal, dass sie mit Fremden redeten. Ansonsten sprachen sie mit niemandem, umgingen die Dörfer und Siedlungen und überquerten die Grenze nach Ashanar bei Nacht, als die Wachposten bereits betrunken waren. Niemand hielt sie auf.
    »Du wolltest nie eine Armee in Somerstorm aufstellen, oder?«, fragte Gerit eines Abends am Lagerfeuer.
    Korvellan schüttelte den Kopf. Er blieb in seiner menschlichen Form, nur nachts, wenn er schlief, verwandelte er sich. Im Schlaf und in der Dunkelheit schien er die Kontrolle darüber zu verlieren wie so viele der Nachtschatten, die Gerit in der Festung kennen gelernt hatte.
    »Und es gab auch keine Versorgungsengpässe, keine Soldaten in den Kasernen, keine Waffenausbildung?«
    »Nein.« Korvellan drehte den Spieß mit dem Kaninchen, das sie am Nachmittag erlegt hatten.

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