Sturm
eindringlich. Sein Blick richtete sich auf die Sklaven, die immer noch an der Kette hingen. Sie schlitterten über den blutbespritzten Boden, wurden hinter dem Nachtschatten hergezerrt, dessen Klauen Bänke und Tische zur Seite fegte. Keiner von ihnen bewegte sich noch.
Die Stoffbahnen des Zeltes flatterten. Sechs Soldaten stürmten heraus. Mit gezogenen Schwertern und klirrender Rüstung liefen sie dem Nachtschatten entgegen. Die Wachen blieben an ihrem Posten stehen.
Der erste Schwertschlag glitt an der Schulter des Nachtschattens ab, eine zweite Schwertspitze bohrte sich in seinen Rücken. Fauchend fuhr er herum. Er schien angreifen zu wollen, stoppte dann jedoch und wich zurück. Die Soldaten bildeten einen Halbkreis um ihn.
»Bringt es schon um!«, schrie eine Frauenstimme.
Der Nachtschatten holte zu einem Tritt aus, der einem Soldaten den Bauch aufriss. Mit einer Klaue zog er an der Kette. Die Leichen rutschten über das Deck wie über Eis. Sie prallten gegen die Soldaten. Einer taumelte nach vorn, in die ausgestreckten Klauen des Nachtschattens hinein. Blut spritzte und lief in langen Bahnen über die Stoffbahnen des Zeltes.
Die anderen Soldaten sprangen über die Leichen hinweg und holten mit ihren Schwertern aus. Doch der Nachtschatten stand bereits auf der Reling. Er heulte ein letztes Mal auf, dann verschwand er in der Dunkelheit. Klirrend rutschten die Ketten über das Holz. Eine der Leichen wurde über die Reling gezogen, dann eine zweite.
»Haltet die Leichen fest!«, rief Craymorus.
Er ließ Rickard los, der sofort auf die Reling zurannte, aber es war bereits zu spät. Die letzte verstümmelte Leiche wurde von Bord gezogen. Ihr Arm prallte gegen die Reling und federte hoch, als würde sie winken. Dann verschwand sie. Craymorus hörte, wie sie ins Wasser schlug.
Er setzte sich auf und wischte sich mit zitternden Fingern den Schweiß von der Stirn. Rickard setzte sich schwer atmend neben ihn. Einen Moment lang lauschten sie den hysterischen Rufen der Passagiere und den beruhigenden der Soldaten.
Rickard sah Craymorus an. Er war blass. »Du musst mir alles sagen, was du über sie weißt.«
Kapitel 8
Die Kultur Somerstorms bleibt dem Außenstehenden weitgehend verschlossen. Kein großer Dichter wird dort gefeiert, kein Denker, kein Magier. Manche hat dies zu der Annahme verführt, es gäbe keine Kultur in Somerstorm. Tatsächlich sind Lesen und Schreiben in diesem Land weitgehend unbekannte Künste, und dem Reisenden, der sie beherrscht, wird mit Erstaunen und Misstrauen begegnet.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
Ein Tritt weckte Gerit. In einer Bewegung, die längst zum Instinkt geworden war, zog er die Decke von seinem Körper, kam auf die Knie und presste die Stirn gegen den Steinboden. »Wie kann ich von Nutzen sein?«, fragte er. Seine Stimme war heiser von zu wenig Schlaf und zu viel Rauch.
»Hol Holz.« Horons Schatten war eine dunkle Drohung. »Beeil dich.«
»Ja.« Gerit stand auf, ohne den anderen Jungen anzusehen. Horon war nur wenig älter als er, aber wesentlich kräftiger und größer. Er hatte helles verfilztes Haar, das in sein Gesicht hing. In seiner Nachtschattengestalt ging er auf allen vieren und selbst am Tag war sein Rücken gekrümmt. Seine Augen waren schmal, blau und kalt. An den Füßen trug er Gerits Lederstiefel.
Vorsichtig stieg Gerit über die anderen Diener hinweg. Mehr als zwanzig schliefen auf dem Küchenboden. Ursprünglich hatte sich ihre Unterkunft im Verwaltungstrakt befunden, aber dort war längst kein Platz mehr. Jeden Tag trafen neue Nachtschatten ein. Die Festung war überfüllt. Waffenklirren und gebrüllte Befehle hielten Gerit fast jede Nacht wach.
Durch die Küchentür trat er auf den Hof und nahm einen Sack vom Haken. Es regnete. Seine nackten Füße versanken im Schlamm. Sie waren voller Blasen und Schrammen. Seit Horon ihm seine Stiefel abgenommen hatte, musste er barfuß gehen. Er glaubte nicht, dass er sich je daran gewöhnen würde.
Nach und nach hatten die anderen Diener ihm alles abgenommen. Seidenfell, ein Mädchen, das in der Bäckerei arbeitete und mit Horon schlief, trug seine Jacke, ein Junge namens Jry seine Hose und sein Hemd. Gerit hatte ein paar Lumpen gefunden, die er notdürftig mit Stricken zusammenhielt.
Er gähnte und stapfte durch den Schlamm auf den Unterstand zu, in dem das Holz für die Küche gelagert wurde. Eine der Wachen auf der Mauer drehte sich nach
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