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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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ihm um. Gerit blieb stehen und verneigte sich. Der Nachtschatten ignorierte ihn.
    »Guten Morgen«, sagte eine hohe krächzende Stimme. »Komm aus dem Sauwetter raus.«
    Gerit drehte sich zu der Gerberei um. Der Nachtschatten, der dort stand und ihn mit einer langen, knochigen Klaue zu sich winkte, hieß Moksh. Er war alt, so alt, dass er die meisten Ereignisse seines Lebens längst vergessen hatte. Die Kleidung flatterte um seinen mageren Körper. Einige dünne Bartsträhnen waren die einzigen Haare auf einem Kopf, der ansonsten nur von dunklen Altersflecken und Warzen bedeckt war. Sein Hals war lang und faltig wie der eines Truthahns. Er hatte kein Fell, weder bei Tag noch bei Nacht.
    »Gleich!«, rief Gerit zurück. Er füllte den Sack mit Holzscheiten, schwang ihn sich auf den Rücken und schlitterte durch den Schlamm auf die Gerberei zu. Moksh stützte sich auf seinen Stock und schüttelte den Kopf. Er schüttelte immer den Kopf, egal was er dachte oder sagte.
    »Das wird schon«, sagte er. »Keine Sorge, das wird schon.«
    Gerit wusste nicht, worauf er sich bezog. »Ich muss gleich wieder zurück«, sagte er, als er den Stall betrat. Das Stroh kitzelte an seinen Fußsohlen. »Horon wartet auf sein Holz.«
    Moksh schüttelte den Kopf und griff nach einem Steinkrug. Tee dampfte darin. »Dieser Horon ist kein guter Junge. Lässt dich zu viel arbeiten und schlägt dich. Musst immer tun, was er sagt, dann hast du irgendwann deine Ruhe. So ging's mir auch.«
    Gerit nahm den Steinkrug in beide Hände. »Du gehörst zu ihnen, ich nicht. Horon wird mich nie in Ruhe lassen.«
    Er trank einen Schluck Tee. Er war heiß und süß. »Ich glaube, er würde mich umbringen, wenn Korvellan es nicht verboten hätte.«
    »Wichtiger Mann, dieser General Korvellan.« Moksh hustete und wischte sich über den Mund. »Halte dich fern von wichtigen Männern. Sie bringen Ärger und Verderben.«
    Er blinzelte. Seine knochige Hand zeigte vage ins Innere der Gerberei. »Du kommst später vorbei, dann mach ich dir was zu essen.«
    »Das werde ich.« Der unerwartete Abschied störte Gerit nicht. Er war daran gewöhnt. Er schulterte den Sack voller Holz und trat wieder zurück in den Regen. Der alte Moksh hatte gute und schlechte Tage. Manchmal sprach er klar, manchmal war er so verwirrt, dass er nicht einmal mehr wusste, wo er war. Selbst an diesen Tagen verbrachte Gerit so viel Zeit mit ihm wie möglich. Es gab niemanden sonst, mit dem er hätte reden können. Die anderen Nachtschatten verachteten und verhöhnten ihn. Gerit war der einzige Mensch, der noch in der Festung lebte. Die Diener, Soldaten und Beamten, die er einst gekannt hatte, waren entweder tot oder verschwunden.
    Er dachte an Vrenn, den er im Stich gelassen hatte. In den ersten Tagen hatte er jede Nacht von ihm geträumt, doch mittlerweile konnte er sich noch nicht einmal an sein Gesicht erinnern, nur an all das Blut. Er fühlte sich schuldig deswegen, aber auch erleichtert.
    Gerit wusch sich die Füße in einer Regentonne, bevor er die Küche betrat. Die meisten Diener lagen noch eingerollt in ihren Decken. Sie würden erst in einigen Stunden aufstehen, wenn die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Nur in der Bäckerei wurde bereits gearbeitet. Der Geruch von frischem dunklem Brot hing in der Luft.
    Horon saß auf einer Holzbank an der Wand und schälte Makas. Er hielt den Kopf gesenkt, als müsse er sich auf das Messer in seiner Hand konzentrieren, aber Gerit wusste, dass er in Wirklichkeit ihn beobachtete, lauernd, wartend, auf einen Fehler hoffend.
    Gerit lehnte den Sack voller Holz an die gemauerte Feuerstelle. Sie war offen und so groß, dass man einen ganzen Ochsen über ihr rösten konnte. Der Rauch zog durch einen Kamin in der Decke ab, trotzdem lag eine dünne Rußschicht auf allem, was sich in der Küche befand, auf dem Boden, auf den Tischen und Bänken, auf Kleidung und Gesichtern. Gerit schmeckte Ruß auf der Zunge, wenn er morgens erwachte, und spürte Ruß unter seinen Lidern, wenn er nachts die Augen schloss. Jeden Morgen und jeden Abend säuberten die Diener die Küche, doch der Ruß kehrte stets zurück.
    So leise wie möglich stapelte er die Holzscheite neben der Feuerstelle. Er spürte Horons Blicke in seinem Rücken. Einer der Scheite rutschte ihm aus der Hand, aber er fing ihn gerade noch rechtzeitig auf. Er atmete auf und legte den letzten Scheit auf den Stapel. Dann faltete er den Sack zusammen und stand auf. Die erste Herausforderung des Tages hatte er

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