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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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rechter Arm, auf dem er wohl die ganze Zeit gelegen hatte, kribbelte. Er begann ihn zu massieren und fragte sich, wie viel Zeit wohl vergangen war.
    »Es tut mir leid.«
    Craymorus zuckte zusammen, als er die Stimme hörte. Er hob den Kopf und sah sich um. Rickard saß neben ihm an einen Balken gelehnt. Zwei Näpfe und zwei Becher standen neben ihm.
    »Ich war ein Narr«, fuhr Rickard fort. Er schob Craymorus einen der Näpfe entgegen. »Ist noch warm. Keine Ahnung, was das für ein Zeug ist. Soll Ziegeneintopf sein, schmeckt aber nach Fisch. Du spülst es am besten mit dem Bier runter, das nach Ziege schmeckt.« Er schob auch den Becher von sich weg und nahm den zweiten in die Hand. Mit einem unsicheren Lächeln hielt er ihn Craymorus entgegen.
    »Hoffnung«, sagte er. Es war der traditionelle Trinkspruch Westfalls.
    Craymorus setzte sich auf. Der Schlaf hatte ihm die Wut genommen und nur eine dumpfe Verärgerung hinterlassen, nicht genug, um die Entschuldigung eines Freundes auszuschlagen. Er hob den Becher. »Hoffnung«, antwortete er.
    Das Bier schmeckte rauchig und tatsächlich ein wenig nach Ziege. Craymorus trank einen Schluck, dann griff er mit der Hand in den Napf und begann zu essen, so wie es bei den Varna Sitte war, ohne Löffel, ohne Messer, nur mit der Hand. Der Eintopf war fest und fast geschmacklos. Craymorus spülte ihn mit mehr Bier hinunter.
    »Weißt du, wem das Zelt gehört?«, fragte er kauend.
    Rickard schüttelte den Kopf. »Ich habe die Soldaten gefragt, aber sie wollten mir nichts sagen.«
    »Und die Wappenfarbe?«
    »Kenne ich nicht.« Er hob die Schultern. »Mein Vater sagt immer, dass seit dem Krieg Scheiße auch mehr als eine Farbe hat. Früher wusste jeder, welche Farbe zu welchem Haus gehört, heute ist das anders. Jeder könnte in dem Zelt sein.«
    Craymorus spuckte Knorpel aus. »Er wird sich uns zeigen müssen, spätestens …«
    Kettenklirren und erschrockene Rufe unterbrachen ihn. Er drehte den Kopf. Neben ihm sprang Rickard auf. Seine Hand lag auf dem Dolch in seinem Gürtel.
    Keiner der Sklaven hockte mehr am Boden. Sie waren bis an die Reling zurückgewichen und sahen sich hilflos um. Lorky stand vor ihnen. Er zitterte. Die Muskeln unter seiner Haut waren angespannt und zuckten.
    »Helft ihm doch!«, schrie einer der Sklaven. »Etwas stimmt nicht mit ihm.«
    Einer ihrer Wächter war mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen, zu betrunken, um etwas von dem Geschehen mitzubekommen. Der andere, der ihm gegenübersaß, stand schwankend auf. »Schnauze halten!«, lallte er. »Wenn er draufgeht, geht er halt drauf.«
    »Der Junge ist krank. Wir müssen was tun«, sagte Rickard zögernd.
    Craymorus sah Lorky an. Er stand einfach nur da, zitternd, den Blick in den Himmel gerichtet. Seine Hände waren zu Fäusten geballt.
    »Er ist nicht krank.« Craymorus spürte eine seltsame Kälte in sich aufsteigen.
    »Was?«
    »Er ist nicht krank.«
    Im gleichen Moment wandelte sich der Junge. Es ging so schnell, als habe ihn etwas umgestülpt wie einen Handschuh. Fell bedeckte seinen Körper. Sein Kopf war langgezogen wie der eines Wolfs, sein Kreuz breit, seine Hände Klauen. Er heulte auf. Die Sklaven schrien.
    Nachtschatten. Craymorus ließ den Napf fallen. Der Eintopf spritzte über seine Kleidung. »Tötet ihn!«, brüllte er, doch niemand reagierte. Nur die Soldaten vor dem Zelt zogen ihre Schwerter. Unsicher blieben sie stehen, schienen nicht zu wissen, ob sie der Kreatur entgegenlaufen oder auf ihrem Posten bleiben sollten.
    Der Nachtschatten riss die Sklaven an ihren Ketten zu sich. Heulend schlug er um sich. Seine Krallen zerfetzten ihre Körper, schlugen Wunden, so tief, dass Eingeweide hervorquollen und Gliedmaßen zu Boden fielen. Mit übermenschlicher Kraft zog er Sterbende, Verletzte und Tote hinter sich her. Schreie gellten über das Deck. Der Eisenring, der die Ketten hielt, wurde aus dem Holz gerissen.
    Der betrunkene Wächter starb, ohne noch einmal zu erwachen. Der andere stolperte über die Holzbank, auf der er gesessen hatte, und fiel zu Boden. Er kreischte in Todesangst. Der Nachtschatten packte ihn. Stoff zerriss, dann Fleisch. Das Kreischen verstummte.
    Rickard zog seinen Dolch. Craymorus hielt ihn fest, drückte ihn mit der Kraft seiner Arme gegen den Balken. »Nicht!«, schrie er. »Er wird dich töten!«
    Er spürte, wie Rickard sich aus seinem Griff lösen wollte, aber er spürte auch, wie halbherzig der Versuch war. »Du kannst ihnen nicht helfen«, sagte er

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