Sturmauge
Land sein, in das du geboren wirst?«, fragte er mit zitternder Stimme.
»Ein Land, das es noch zu formen gilt«, antwortete Oterness sanft. »Ein Land, für dessen Entstehung du zwanzig Jahre lang gekämpft hast, Emin, und eines, das du jetzt nicht im Stich lassen kannst. Ich kenne dich, noch besser als die Leute, die in deinem Schatten arbeiten, sogar besser als Morghien. Du hast jahrelang dafür gearbeitet, diese Eiferer in ihre Schranken zu weisen und diese Berichte über Priester, die größere Taten für nötig halten, beschreiben nur das uralte Problem, das nun einen größeren Rahmen angenommen hat. Unsere Spione arbeiten noch immer, unsere Netzwerke bleiben bestehen. Erst gestern brachte Graf Antern den Brief eines deiner Spione, mit grünem Wachs gesiegelt.«
»Grünes Wachs?« Er richtete sich auf. Für gewöhnliche Staatsangelegenheiten verwendeten sie rotes Wachs, weißes für Fragen der nationalen Sicherheit, und er ermunterte seine Frau in beiden Fällen, die Briefe zu lesen, auch wenn er nicht da war … Auch andere Frauen hatten eine vergleichbare Herkunft aufzuweisen gehabt wie die Dame Oterness, vormalige Bekashay, aber ihr Verstand übertraf bei weitem den jeder anderen möglichen Gattin, und ihre Hilfe bei den Regierungsgeschäften war unbezahlbar. Grünes Wachs war allerdings eine andere Sache. Es wies auf Nachrichten im Zusammenhang mit seinem Krieg gegen Azaer, dem Schatten, hin, und das wollte er ihr ersparen.
»Er liegt auf deinem Schreibtisch«, sagte Oterness mit einem Nicken zur Wendeltreppe hinter ihm. Das kanzelartige Hochgeschoss lag im Dunkeln, weil Jorinn wusste, dass sie keinen Fuß auf die Treppe setzen, geschweige denn hinaufsteigen durfte, um die Lampe auf dem Tisch des Königs zu entzünden.
Emin half seiner Frau auf den Stuhl und holte dann den Brief, der so klein zusammengefaltet war, dass er in der Hand versteckt
werden konnte. Er öffnete ihn, las die Nachricht und blickte auf Oterness. Ohne Worte trat er zum Glockenzug neben dem Kamin und zog daran, um Coran, seinen Weißaugen-Leibwächter, herbeizurufen.
»Kann das nicht warten? Du musst erst etwas essen und dich ausruhen. Gönn dir wenigstens eine Stunde«, sagte Oterness besorgt, obwohl sie genau wusste, dass er seine Bedürfnisse und sein Leid nicht beachten und sich stattdessen der Dinge annehmen würde, die seine Stellung mit sich brachte.
Aber wirst du es jemals herauslassen? Du hast deine Wut über Ilumenes Verrat tief vergraben, aber sie ist noch da – und was jetzt? Du verlangst dir zu viel ab, mein Emin, viel mehr, als es irgendwer tun sollte.
»Ich werde mich bald ausruhen«, antwortete der König schließlich, umfasste die Lehne ihres Stuhls und legte die Hände dann auf ihre Schultern. Coran kam wie üblich ohne anzuklopfen hereingestürmt, das Gesicht ausdruckslos.
»Händige diesen Brief Anversis Chals aus. Sag ihm, er solle einen Plan für den Hochsommer erstellen.«
»Anversis? Dein Onkel?«, fragte Oterness mit verwirrtem Gesichtsausdruck dazwischen. »Ich dachte, er hätte keinen Anteil an deinem Kampf … verbringt er seine Tage nicht damit, Völkerwanderungen zu untersuchen?«
Emin lächelte. »Genau.«
»Du hast doch nicht etwa einen Weg gefunden, seine Leidenschaft zu nutzen? Der Mann ist so ein Plappermaul – du darfst ihm keines deiner Geheimnisse anvertrauen.«
»Stimmt ebenfalls«, seufzte der König. »Aber er hat seine Theorien auf die Wanderungen der Harlekine angewendet, und dieser Brief ist das erste Anzeichen für etwas, das wir seit Disteltal befürchten.«
»Wir? «
»Morghien und ich. Erinnerst du dich daran, wie ich ihn zum ersten Mal traf?«
Oterness nickte matt. »Es ging um den Geist in der Bibliothek, die dein Vater gespendet hatte, und dass Morghien dich vor ihm gerettet hatte.«
Emin verzog das Gesicht. »Das war kein Geist, sondern Azaer. Der Schatten konnte der Versuchung der Bibliothek, die für die gesamte Bevölkerung geöffnet war, nicht widerstehen und begann damit, einige der Bücher umzuschreiben, unsere Geschichte zu ändern. Am Ende dieser einen Woche hatte ich einem körperlosen Unsterblichen den Krieg erklärt und musste eine Schwester zu Grabe tragen. Es gibt eine Gruppe von Leuten, die am besten dazu in der Lage ist, die Geschichte umzuschreiben, und Rojak hat uns in Disteltal gezeigt, über welche Macht ein Barde verfügt.« Er hielt den Brief hoch und reichte ihn dann Coran. »Das ist ein Bericht aus Helrect. Einem Harlekin, der im letzten
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