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Sturmauge

Sturmauge

Titel: Sturmauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Lloyd
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Himmel das dunkelste Blau annahm, war die Luft vollkommen klar und unbewegt. In allen Richtungen spürte Venn den stillen Wald um sich herum, nur sein eigenes Keuchen und seine Schritte störten die Ruhe. Der eisige Griff der kalten Nachtluft war unnachgiebig  – also trieb er sich an, denn er wusste, dass er die Lichtung erreichen musste, bevor ihm die Kälte den Garaus machte. Zu viele Reisende unterschätzten die Entfernungen und unterlagen ihnen schließlich. Die Vukotic konnten ihren Saljinmann behalten  – der Winter in dieser Gegend war selbst ein Dämon.
    Endlich erreichte er die Lichtung und blieb wider besseren Wissens am Rand stehen, um stumpfsinnig vor sich hin zu starren. Es war schon Jahre her, dass er sie zum letzten Mal besucht hatte. Das Land selbst schien den Atem anzuhalten, als er auf die Erschütterungen wartete, die seine Rückkehr mitbringen mochte. Dann trat er doch auf die Lichtung, in seinem Schatten aber verbarg er den Untergang seines Volkes.
    Er bewegte sich zögerlich, von der weiten, stillen Szenerie etwas eingeschüchtert. Wolkenfäden in zartem Rosa, die das letzte Licht des Tages einfingen, bildeten über ihm einen unwirklichen Hintergrund für diesen Ort, den er nie erwartet hatte wiederzusehen.
Nur das Knirschen seiner Stiefel auf dem Schnee und das gelegentliche Knarren und Stöhnen der schneebeladenen Äste im Wald waren hinter ihm zu hören. Er zupfte an seinem Bärenfell herum, versuchte es enger um sich zu ziehen, aber das Gewicht seines Schattens erschwerte dies, und so gab er nach zwei Versuchen auf und ließ es am Hals offen stehen. Sein Ziel lag nun sichtbar vor ihm, und das war alles, was zählte.
    Der Eingang zur Höhle lag nur einige hundert Schritt entfernt. Darauf wuchsen schneebedeckte, kleine Kiefern, die den Großteil der zerfallenen Berge bedeckten. Sie grenzte an eine leichte Anhöhe, die sich meilenweit erstreckte und eines der beiden schiefen Beine des Berges formte, den man den Alten Mann nannte. Nah der Spitze gab es den Schrein für einen vergessenen Gott, der zwar verfallen, aber trotzdem beeindruckend wirkte. Venn erinnerte sich daran, wie er ihn in jugendlicher Neugier einmal besucht hatte. Der Gott, wie er auch geheißen haben mochte, war gebeugt und alt gewesen, wie der kahle Fels, der als sein Andenken diente. Als der Tag der Abrechnung gekommen war, hatte er Ushull nichts entgegenzusetzen gehabt.
    Venn blieb auf halbem Weg zum Eingang stehen und drehte sich zu dem weiten Feld aus Kiefern um, aus dem immer wieder gewaltige Finstereichen ragten, wie halb eingeschlagene Nägel. Aber bevor er sich der Liebe hingeben konnte, die er schon als Kind für diesen Anblick gehegt hatte, brach Dohles Keuchen den Bann. Venn schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Wenigstens an diesem Tag war ihm der Anblick von Dohles zuckenden Hautbildern und auch der seines ewig geringschätzigen Ausdrucks erspart geblieben, ebenso wie sein unablässiges Plappern. Und dafür war Venn dankbar. Seit sich der frühere Priester mit einem Zauber an Venns Schatten gebunden hatte, hatte er gelernt, seine Kraft nicht mit Beschwerden zu verschwenden.
    Der Höhleneingang sah noch immer so aus wie an jenem Tag,
an dem er sich die Schwerter stolz auf den Rücken geschnallt hatte und mit der weißen Maske, die den Mann darunter verbarg, ins Land hinausgegangen war. Frei stehende Messingkohlebecken zu beiden Seiten der verbreiterten Kluft warfen ein schwaches Licht in das dunkle Innere. Der Geruch von frischem Harz aus prasselnden Kiefernzapfen vermischte sich in der Abendluft mit dem von Weihrauch. Jedes Becken stand auf einem achteckigen Baumstumpf, der mannsdick war und so hoch aufragte, dass sich manche Priester auf die Zehenspitzen stellen mussten, um über den verbeulten Rand zu sehen.
    Sie waren jahrhundertealt und hatten in dieser Zeit einiges erleiden müssen. Venn erinnerte sich daran, wie enttäuscht er gewesen war, als er die Wahrheit über die verblassten Zeichen auf den Schalen erfahren hatte. Er hatte sie für Beschwörungen in einer geheimen Sprache gehalten, dabei waren es nur Kratzer gewesen, die Auswirkungen des Wetters und Spuren, die der Zahn der Zeit oder achtlose Priester hinterlassen hatten, und Folgen von Stürmen, die sie auf den Steinboden geworfen hatten. Sein Vater hatte über seine Vorstellungskraft gegrummelt und die Stirn krausgezogen, wo andere nur gelacht hätten.
    War das der erste Schritt auf diesem Weg?, fragte er sich. Diese erste Enttäuschung einer

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