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Sturmauge

Sturmauge

Titel: Sturmauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Lloyd
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sie dorthin führen.
    »Kein König soll euch beherrschen, kein sterblicher Herr euch befehlen.« Die letzte Zeile der heiligen Worte hatte die Clans dazu gebracht, sich für etwas Besonderes zu halten, für gesegnet. Seine Abscheu schmeckte so bitter wie zuvor das Gebet.
    »Hört mir gut zu, denn ich bin ein Hüter der Geschichte«, sagte er mit rauer und brechender Stimme, als hätte er all die Jahre seit seinem letzten Besuch an diesem Ort geschwiegen. Es war die traditionelle Eröffnung einer Harlekin-Versammlung.
    Er wartete, spürte, wie sich die Priester versammelten. Dann
fühlte er eine Hand auf seiner Schulter, und Dohle ließ die Magie durch ihn fließen. Ein Schauder ergriff seinen Körper und pflanzte sich in den Boden zu seinen Füßen fort. Um ihn herum erklang ein furchtsames Flüstern und Erstaunen, da spürten die Priester den Boden erbeben.
    »Ich berichte euch von Frieden – und von einem Kind. Unser Land ist befleckt, unausgeglichen und mit Makel behaftet, doch muss es tadellos sein, damit wir seinen Schatten lesen können. Diese Makellosigkeit kann im Gesicht eines Kindes gefunden werden, denn ein Kind kennt keine Furcht. Kinder tragen nur das göttliche Geschenk des Lebens in sich, und ihre Seelen sind rein, ihre Herzen frei.
    Die Bußfertigen unter uns mögen ein Kind aufziehen, um uns an die Unschuld zu erinnern, die wir einst besaßen. Die Bußfertigen mögen mit der Stimme eines Kindes sprechen und keine Verwendung für harsche Worte oder prahlerisches Getue haben. Die Bußfertigen sollen die Tränen eines makellosen Kindes schauen, während sie ihrer Sünden entsagen und um den Verlust ihrer Unschuld weinen. Was könnte einen größeren Dienst darstellen, als den an der Unschuld?«
     
    Zwei Gestalten im Wald warfen sich einen Blick zu, während ihr kalter Atem auf den Schnee traf. Sie schienen im vergehenden Licht des Tages nicht mehr zu sein, als undurchdringliche Dunkelheit und hatten sich neben dem abgebrochenen Stumpf einer uralten Kiefer niedergelassen. Eine der Gestalten hatte eine Hand ausgestreckt, auf der nackten Handfläche lag ein gläserner, grob geformter Schädel. Ihre grünen Augen flammten in der Dunkelheit auf.
    »Und um das zu beobachten, sind wir hergekommen?«, fragte der Mann. In seiner Stimme lag keine Verärgerung, seine Schwester bemerkte die Andeutung von Zweifel aber trotzdem.

    »Jeder Teppich beginnt mit einem ersten Faden. Ich möchte wissen, welches Muster er weben wird, solange noch Zeit bleibt zu handeln.«
    »Wir nutzen unsere Zeit am besten, wenn wir Fäden aufribbeln?«
    »Wir haben unendlich viel Zeit zur Verfügung, Koezh«, antwortete sie und hob den Kopf, als müsse sie sich anstrengen, die letzten Worte des Harlekin zu hören. Dann steckte sie den Kristallschädel in eine Tasche, die sie um die Hüfte trug. »Und der Grund für all das hat sich vielleicht schon offenbart.«
    »Das Kind.«
    Sie nickte. »Der Fall Screes hat bewiesen, dass man Götter vertreiben, von einem Ort und einem Volk fernhalten kann, wenn auch nur zeitweise. Wenn die Tempel leer bleiben und die Gemeinde sich gegen ihre Götter wendet, so sind diese Götter schwach und angreifbar.«
    Koezh verstand. »In Zeiten der Sorge suchen die Leute Trost in der Vergangenheit, und die Harlekine sind die Hüter der Geschichte. Wenn diese Hüter anfangen, von einem Kind des Friedens zu berichten, während überall im Land die Kriegshörner geblasen werden, wird der Glaube der Menschen nicht zerstört, sondern umgelenkt.«
    Zhia lächelte, ihre verlängerten Zähne blitzten im Zwielicht. »Vielleicht ist unsere Zeit endlich gekommen.«

2

    Der Gang, der zu ihrem Arbeitszimmer führte, war zugig und dunkel, nur die Lampe, die sie bei sich trug, spendete etwas Licht. Königin Oterness kam sich wie eine Diebin vor, wie sie so im Schutze der Nacht durch ihren eigenen Palast schlich, während jeder vernünftige Mensch schlief. Es war mitten in der Nacht, eine Zeit, von der sie sonst nichts bemerkte, aber seit sie schwanger war, hatte sie nicht mehr richtig schlafen können.
    Und jetzt erschrecke ich mich schon vor Schatten , dachte sie müde , und habe Angst, die Augen zu schließen, auch wenn noch so viele Wachen um mich herum sind. Ich leide unter Verfolgungswahn, wie mein Mann.
    Sie zog das Schultertuch enger um sich und blieb an der Ecke des Ganges stehen, um in beide Richtungen zu blicken. Nur der Regen war zu hören, wie er gegen die Läden prasselte und die Wand bis zu einem Balkon über

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