Sturmherz
meinem Körper keine Ruhe. Ich war gefangen in einem Rausch, musste mir durch den Schmerz in meinen Muskeln beweisen, dass ich nicht träume. Zu leben fühlte sich unwirklich an. Ich hatte geglaubt, dort am Strand zwischen den Klippen zu sterben. Die anfängliche Angst vor dem Tod war jedoch in Zuversicht umgeschlagen. Irgendwann hatte ich sogar Frieden empfunden. Ich hatte gewusst, dass ich endlich meine Familie wiedersehen würde. Jenseits dieser Wirklichkeit warteten sie auf mich: Ciara, meine Schwester. Meine Mutter, mein Vater, meine Herde. Und Evelyne. Das erste und einzige Menschenmädchen, das ich je geliebt hatte. Wenn auch nur für die Dauer eines Augenblicks, bevor sie wieder in ihre Gefangenschaft gezwungen worden war.
Wenn ich starb, so hatte ich gedacht, würde ich mich auf unserer Insel wiederfinden. Inmitten von meinesgleichen im Sand liegend, geschmiegt an warme Körper und vom Rauschen des Meeres und Säuseln des Windes in den Schlaf geflüstert.
Doch dann war dieses Mädchen gekommen. Ein Menschenmädchen so zart wie Evelyne, nur, dass in ihren Augen Lebendigkeit gefunkelt hatte.
Etwas längst Vergessenes wühlte sich wieder an die Oberfläche. Warme Menschenhaut. Sterbliche Liebe. Ein Gebäude aus Stein, das zuerst wie ein Gefängnis wirkte, doch bald zu einem Zuhause wurde. Musik. Der Geruch von Tee, Kaffee und Kaminholz.
Als ich auftauchte, umschäumte Wellengischt meinen Seehundkörper und erinnerte mich daran, wohin ich gehörte. Das Land war nicht meine Welt. Weder damals noch heute. Menschen waren meine Feinde. Der Feind aller Lebewesen im Meer. Sie fischten alles leer, jagten und töteten grundlos, kippten Gift ins Wasser. Sie schossen auf mich, wenn ich die Netze zerbiss, und verdreckten meine Heimat mit ihrem Müll. Alles, was sie hinterließen, war Zerstörung. Die Erinnerungen an eine kurze Zeit, in der Menschen mich geliebt hatten, änderte an dieser Tatsache nichts.
Gestern war die Kugel eines Fischers schneller als mein Seehundkörper gewesen. Der Schmerz hatte sich wie eine glühende Klinge in mein Fleisch gebohrt. Aber als ich mich zum Sterben in den Sand gelegt hatte, war er einer sonderbaren Leichtigkeit gewichen. Alles war Schicksal. Nichts geschah ohne Sinn, auch wenn zunächst noch deutlich vorgegebene Wege plötzlich in eine andere Richtung umschlugen.
Mari …
Der Name des Mädchens geisterte durch meinen Kopf, wie damals der von Evelyne. Ich konnte nichts dagegen tun. Ewigkeiten war es her, dass ich auf weichen Polstern gelegen und menschliche Hände gespürt hatte. Mari hatte keine Angst vor mir empfunden, obwohl ihr die Wahrheit nicht verborgen geblieben war. Ihre Augen waren blaugrün wie der schmale Saum zwischen Brandung und tiefem Wasser. Winzig dunkle Punkte scharten sich wie Sterne um ihre Nase. Alles an ihr war klein und zart. Wie bei einer Seeschwalbe.
Vor langer Zeit, so hieß es in den Geschichten meines Volkes, hatten Seefahrer durch unser Lied in die Heimat und Ertrinkende ans rettende Ufer zurückgefunden. Armen Fischern hatten wir fette Beute in die Netze getrieben, damit ihre Familien nicht mehr hungern mussten. Es war eine Zeit gewesen, in der mein Volk Seite an Seite mit den Menschen gelebt hatte. Doch sollte es je ein solches Bündnis gegeben haben, war es schon lange zerstört: Vernichtet durch Käfige, Gewehrkugeln und Netze. Unsere den Menschen einst wohlgesonnenen Stimmen raubten ihnen fortan die Seele. Unser Gesang tröstete sie nicht länger, sondern lockte sie zu scharfen Felsen, an denen ihre Schiffe zerschellten. Wo Mensch und Selkie aufeinander trafen, regierte der Tod. Das war eine Tatsache, die lange genug gegolten hatte, um zum Naturgesetz zu werden. Und deshalb war das sanfte Gefühl in meinem Herzen, wenn ich an das Mädchen dachte, nichts als Unsinn, den ich vergessen musste. Gedanken wie diese pflanzten einem nur Garnelen in die Eingeweide.
Vor mir tauchte eine Felseninsel auf, kupferfarben schimmernd im Licht der untergehenden Sonne. Ich zog mich an ihr hinauf, legte das Fell ab und versteckte es in einer Spalte dicht über der Wasseroberfläche, wo ich es schnell herausziehen konnte, falls ich ins Wasser springen musste. Meine Muskeln fühlten sich taub an, als ich mich auf einem kleinen Vorsprung aufrichtete. Ich suchte den Horizont ab, konnte aber kein Schiff entdecken. Gut so. Im Laufe der Jahre war das ständige auf der Hut sein so selbstverständlich geworden wie das Atmen. Ich konnte nicht zulassen, dass ein Mensch mein
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