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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Fell, und damit mein Schicksal, in die Hände bekam. Die alten Geschichten mochten an Land zwar nicht mehr so oft erzählt werden wie früher, doch ich wusste, dass die Menschen sie nicht vergessen hatten. Manchmal, wenn ich versteckt hinter einem Felsen lag, konnte ich die Landbewohner dabei beobachten, wie sie um ein Lagerfeuer saßen und sich von den Legenden erzählten. Als Kind hatte es für mich nichts Schöneres geben können, als es mir in einem Bett aus angespültem Tang gemütlich zu machen und solchen Erzählungen zu lauschen. Obwohl es sich seltsam angefühlt hatte, ein Teil von ihnen zu sein, und somit etwas, an das die Menschen nicht mehr glaubten. Heute wusste ich, dass dieses Wissen Gefahr bedeutete.
    Ich setzte mich auf den Vorsprung, ließ die Beine ins Wasser baumeln und blickte auf die in der Abenddämmerung wogende See hinaus. Am Horizont blinkte der Lichtkegel des Leuchtturms von Noup Head und ließ seinen Strahl über das Meer streifen.
    Der Turm war nur wenige Jahre, nachdem die Jäger meine Familie vernichtet hatten, erbaut worden. Sein Licht, das fortan jede Nacht aufflammte, war für mich ein Zeichen gewesen. Das Symbol für das Ende meiner Welt und die Herrschaft des Menschen über etwas, das er einst respektiert hatte.
    Als ich merkte, wie sich die Schmerzen meiner Wunde zu verändern begannen, fiel zum ersten Mal seit Stunden die Anspannung von mir ab – ganz langsam, als würde ich mir einen schweren Mantel von den Schultern streifen. Ein fast angenehmes Ziehen und Prickeln trat an die Stelle des pochenden Reißens. Ich konnte sehen, wie die Ränder des Loches sich zusammenzogen. Fleisch und Haut neu entstanden, der Schmerz schwächer wurde.
    Der Wind riss mir ein Seufzen von den Lippen, trug es mit sich über das Meer hinaus. Eine Müdigkeit, die weit über die Erschöpfung der vergangenen Tage hinausging, hatte von mir Besitz gegriffen.
    Ich schloss die Augen und lauschte dem Plätschern der Wellen. Es musste ein Sinn dahinter stecken, dass ich als Letzter meiner Rasse übrig geblieben war. Aber welcher? Wozu war ich noch hier?
    Meine Gedanken wurden jäh durch lautes Prusten unterbrochen. Als ich die Augen öffnete, sah ich etwa zwei Schiffslängen vor mir mehrere schwarze Rückenflossen aus den Wellen auftauchen. Keine fremden Orcas, die danach trachteten, Beute zu schlagen, sondern eine alte Freundin und ihre Familie. Ich hörte die Rufe des Orcaweibchens und erwiderte sie in der Sprache der See. Wären Menschen hier gewesen, hätten sie nichts gehört. Allenfalls gespürt.
    Die Gefühle, die meine Stimme in ihnen auslöste, waren tief in mein Gedächtnis eingebrannt worden. Damals, als ich noch getan hatte, was die Schauermärchen unserem Volk nachsagten.
    Für die Menschen hatte es sich angefühlt, als würden sie in ein unsichtbares Netz eingesponnen. Als versteinerte ihr Körper mit jedem Ton ein wenig mehr, weil die Sehnsucht ihre Seelen vom Fleisch löste und sie in die Unendlichkeit riss. Vielleicht war ich deshalb noch hier: weil die Seelen der Toten mich nicht gehen ließen.
    Der Wind nahm zu, heulte um den Felsen und schleuderte mir salzige Gischt ins Gesicht. Prustend zerschnitten die Orcas die Wellen, drehten sich spielerisch im Wasser und klatschten mit ihren Fluken auf die Oberfläche, um mich zu überzeugen, ihnen Gesellschaft zu leisten. Nicht gewillt, meinen Ruheplatz zu verlassen, schaute ich in dem Himmel hinauf. Zwischen den Wolken funkelten die ersten Sterne wie die gläsernen Geschöpfe der Tiefsee, die in der Dunkelheit an die Oberfläche kamen und das Wasser in ein magisches Universum aus tausend Farben verwandelten.
    Wieder ertönte der Ruf der Wale. Meine Schwester wäre sofort zu ihnen ins Wasser geglitten. Das Schwimmen mit den Walen war Ciaras liebster Zeitvertreib gewesen. Ich hatte immer noch das Echo ihres Lachens im Ohr, als sie zum letzten Mal in ihrem viel zu kurzen Leben den schwarzen Flossen nachgejagt war.
    Mit einem Knurren stand ich auf, spannte meinen Körper an und sprang in das Wasser. Nur weg von den Erinnerungen. Weg von dem lästigen Schmerz, der sowieso keinen Sinn machte. Ich zog mein Fell aus der Spalte und versteckte es stattdessen, um ganz sicher zu gehen, ein gutes Stück unterhalb der Oberfläche. Später würde ich es wieder aufsammeln, denn heute wollte ich die Nacht als Mensch verbringen.
    Auch ohne die Tiergestalt hieß das Meer mich willkommen. Es durchströmte meinen Körper wie ein erfrischender Atem, sodass ich kaum

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