Sturmherz
„Sobald das Wetter sich normalisiert hat.“
„Wegen der Vögel oder wegen Dad?“
„Ach bitte.“ Sie wurde knallrot und wuschelte mir durch das Haar. „Hör auf damit. Wenn ihr wirklich noch nach Hause wollt, solltet ihr euch beeilen. Es wird nicht besser da draußen.“
„Glaubst du an Selkies?“ Es rutschte mir einfach so heraus. Unheilvoll schwebten die Worte zwischen uns. Doch statt spöttisch zu lächeln, begannen Olivias Augen zu funkeln.
„Natürlich“, rief sie entschlossen aus. „Jeder hier glaubt daran. Auf den Orkneys sind Selkies allgegenwärtig.“
„Hast du jemals einen gesehen?“
„Nein. Ich habe jede Menge Seehunde gesehen, aber nie einen, der sich das Fell ausgezogen hat. Als Kind musste ich mal bewusstlos aus dem Wasser gezogen werden, weil ich versucht hatte, mich in einen Selkie zu verwandeln. Es ist so eine schöne Legende. Man schlüpft in die Haut eines Tieres und schon zählt nur noch eines: Das Leben. Ich nahm damals das räudige Fell aus unserem Keller, rannte ins Meer und scheiterte. Es war das erste Mal, dass meine Eltern mir den Hintern versohlten.“
„Hast du mal einen silbergrauen Seehund gesehen?“, fragte ich. „Einen Großen, Schlanken ohne Flecken?“
„Nein.“ Olivias Blick wurde seltsam, ohne dass ich es deuten konnte. „Du etwa?“
„Ja. Ich meine nein. Ach, keine Ahnung, was ich gesehen habe. Lass uns lieber die Erde reintragen.“
„Du glaubst also an Selkies?“
„Vielleicht“, antwortete ich.
„Aber das ist ein Märchen.“
„Vielleicht.“
„Selkiefrauen sollen wunderschön sein.“ Olivia wich meinem Blick aus. „Selkiemänner leider weniger.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“
„Nein, meine Liebe. Selkiemänner sind ungeheuer stark, aber grauslich anzusehen. Wie auch immer, wenn du das Fell eines Selkies findest und es vergräbst, muss er sieben Jahre bei dir bleiben. Er wird dem Meer sieben Tränen nachweinen, doch wenn du es schaffst, die Liebe in ihm zu wecken, gehört er für immer dir.“
Hitze schoss in meine Wangen. Ich hätte nur sein Fell vergraben müssen und er wäre nicht hinaus in die Nacht geflohen. Er wäre bei mir geblieben, sieben Jahre lang. Wenn man an solche Märchen glaubte.
Ich wandte mich ab und roch an einer himmelblauen Hyazinthe. „Was weißt du sonst noch? Ich meine über Selkies.“
„Nicht viel. Sie können dir einen Wunsch erfüllen. Sie singen unter Wasser, weil Gesang im Wasser besser geleitet wird. Manchmal sitzen sie nachts auf Felsen und leiten verirrte Fischer mit ihren Liedern zurück auf den richtigen Weg. Sie sind geboren, um frei zu sein, deshalb ist es gefährlich, ihr Fell zu nehmen. Finden sie es wieder, kehren sie zurück ins Meer und nehmen deine Seele mit. Es sei denn, man schafft es, dass sie einen lieben. Dann liegt dir das Glück ewig zu Füßen.“
Ich starrte sie mit offenem Mund an. Es war bezaubernd, darüber zu reden. Doch wie ein eisiger Strudel sickerte die Befürchtung, der Junge könnte längst tot sein, durch meine Verzückung.
„Was würdest du sagen“, begann ich vorsichtig, „wenn ich dir erzähle, dass ich einen gesehen habe?“
Olivia lächelte ihr Kleinmädchenlächeln. Sie fuhr sich durch den Wust blonder Locken und zuckte mit den Schultern. „Gefällt er dir?“
„Was?“ Mein Herz begann zu klopfen. „Wie jetzt?“
„Dein Selkie. Gefällt er dir?“
„Ja.“ Ich wusste, dass Olivia mir nicht glaubte. Es machte ihr nur Freude, fantasievolle Fäden zu spinnen. „Aber er ist weg.“
„Dann ist es zu spät. Sollte er dir noch einmal begegnen, stehle sein Fell und vergrabe es. Und zwar so, dass er es nicht wiederfindet.“
„Aber dann wäre er mein Gefangener.“ Der Gedanke gefiel mir nicht. „Ich würde nicht wollen, dass er unfreiwillig bei mir ist.“
„Wenn das so ist, hör besser auf zu träumen.“ Olivia schnalzte mit der Zunge. „Freiwillig bleibt ein Selkie niemals an Land. Komm, wir müssen uns beeilen. Sonst schafft ihr es nie nach Hause.“
Kapitel 2
Wie der Schwur gebrochen wurde
„Um meine Lippen lag dein nasses wildes Haar,
um deine Schulter lag mein Arm gezogen,
Hast du denn Furcht vorm offnen Meere?
Es peitscht dich warm. Komm bald, komm bald.
im Hafennebel tanzt die Fähre.
Hinaus! Hinaus!“
Richard Fedor Leopold Dehmel
~ Louan ~
O bwohl meine Kräfte bereits nachließen, schwamm ich weiter durch die dunkle Tiefe. Selbst als ich glaubte, vor Erschöpfung das Bewusstsein verlieren zu müssen, gönnte ich
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