Sturmherz
zerrte immer heftiger an meinem Haar, verwandelte die Tropfen auf meiner Haut in beißenden Frost. Das Licht des Leuchtturms verschwand in der Ferne, um mich herum wurde es immer dunkler. Kaum beugte ich mich nach vorn und schmiegte mich ganz an den nassen, glatten Körper des Orcas, übermannte mich die Müdigkeit endgültig.
Ich musste lange geschlafen haben, denn als ich wieder aufblickte, sah ich jene Klippen, auf denen das Haus des Mädchens stand, drohend vor mir in den Himmel ragen.
Überrascht setzte ich mich auf. Warum hatte der Wal mich hierhergebracht?
Als ich den Kopf in den Nacken legte und an den Felsen hinaufblickte, sah ich nahe am Abgrund einen Mensch stehen. Das Gefühl seiner Sehnsucht lag wie ein bitter schmeckender Pelz auf meiner Zunge.
Mir stockte der Atem. Es war das Mädchen.
Mari.
Ich machte mich bereit, vom Rücken des Wals zu gleiten und ins Wasser zu verschwinden, doch ich konnte den Blick nicht von ihr lösen. Wie gebannt verfolgte ich ihr Auf- und Ablaufen am Rand der Klippen. Mein Herz schlug schneller, als sie dem Abgrund viel zu nahe kam, einen Augenblick lang die Arme ausbreitete und mit dem Gedanken spielte, sich einfach fallen zu lassen. Das Wasser unterhalb der Klippen war an dieser Stelle tief. Es gab keine Felsen, die ihren Körper zerschmettern konnten, aber die Kälte und die wilde Strömung, die sie unter die Oberfläche drücken würde, konnten das Menschenmädchen töten.
Nein!, wollte ich rufen. Tu das nicht . Doch gerade als ich gegen alle Vernunft den Mund öffnete, ließ sie die Arme sinken und trat zwei Schritte zurück.
Meine Erleichterung entlud sich in einem Seufzer. Es war keine Todessehnsucht gewesen, die Mari an den Abgrund gelockt hatte. Eher eine seltsame Art von Lebenshunger und Sehnsucht.
Dummes Menschenmädchen! Hatte sie etwa gedacht, ein Selkie würde kommen, um sie zu retten?
Ja, genauso wäre es gewesen.
Nach und nach erkannte ich mehr Einzelheiten, als würde das Mädchen näher rücken und sich aus dem Nebel der Dunkelheit schälen. Der Wind fing sich in ihrem lockigen Haar und wehte es ihr ins Gesicht. Weich hatte es sich auf meinem Arm angefühlt. Wie Ciaras seidener Pelz, wenn er in der Sonne getrocknet war. Oder wie Evelynes Haar, als sie damals mit mir ausgeritten war. An dem einzigen Abend, der allein uns gehört hatte.
Ich fühlte mich, als hätte ich mich in den Nesseln einer Feuerqualle verfangen. Als wäre der Anblick des Mädchens wie ein Gift, das meinen Körper betäubte, sodass er nicht länger auf meine Anweisungen reagierte.
Irgendwann war es Mari, die sich umdrehte und fortging, und sie ließ ein Gefühl von solcher Sehnsucht in mir zurück, dass mich die Wucht ihrer Gefühle schier überwältigte.
Sie sehnte sich nach mir.
Sie hatte dort oben gestanden in der Hoffnung, mich auf irgendeine Weise anlocken zu können.
Als der Wal ruckartig drehte und zurück auf die offene See strebte, wäre ich um ein Haar von seinem glatten Rücken gerutscht. Mit beiden Armen klammerte ich mich an seiner Rückenflosse fest, schloss die Augen und lieferte mich der Dunkelheit meiner Träume aus.
Zeit, das Menschenmädchen zu vergessen.
Zeit, wieder ganz dem Meer zu gehören.
Kapitel 3
Wie Legenden Wahrheit wurden
„Das Meer ist alles. Sein Atem ist rein und gesund.
Es ist eine immense Wüste, wo ein Mensch nie alleine ist,
in der er fühlen kann, wie das Leben aller in ihm bebt.
Das Meer ist ein Behälter für all die ungeheuren, übernatürlichen Dinge,
die darin existieren. Es ist nicht nur Bewegung und Liebe;
es ist die lebende Unendlichkeit.“
Jules Verne
~ Robin Smith ~
R obin biss die Zähne zusammen, schlang sich das Seil fester um die Hand und versuchte, das Boot höher auf den Strand zu ziehen. „Na los! Komm ... schon!“
Als sich der Kahn immer noch keinen Zentimeter weiterbewegen ließ, gab er auf und ließ sich keuchend auf den Hosenboden sinken. Frustriert kickte er in den Sand und wischte sich die verschwitzten Strähnen aus der Stirn. „Verdammter Mist.“
Als er sich nach hinten fallen ließ, spürte Robin, wie etwas aus seinem Rucksack ihm in den Rücken stach. Mit einem Wutschrei fuhr er hoch, zerrte das Ding von seinen Schultern und warf es beiseite. Scheppernd fiel der Rucksack ein paar Schritte weiter in den Sand. Vier Möwen, die am Himmel kreisten, begannen sich sofort dafür zu interessieren, als wüssten sie genau, dass Robin darin seinen Proviant aufbewahrte.
„Verschwindet!“ Mit aller Kraft
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