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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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sie nicht gelächelt.
    Vor zwei Jahren, an ihrem ersten Tag am Lucerne Medical College, hatten ihre männlichen Kommilitonen sie mit grausamem Gesang empfangen.
     
    Wie lange schien das her zu sein! Zwei kurze Jahre, und so vieles hatte sich verändert. Die größte Veränderung hatte sie selber durchgemacht. {8} Zaghaft und voller Ängste war sie gewesen, als sie an einem Oktobertag des Jahres 1879 zum erstenmal den Hörsaal betreten hatte. Unter den unverschämten Blicken der jungen Männer, die bereits Platz genommen hatten, wäre sie am liebsten in den Boden versunken. Die Grausamkeiten, die sie ihr angetan hatten! In der Rückschau konnte Samantha kaum glauben, daß sich das alles wirklich zugetragen hatte. Ja, es hatte sich viel verändert seither.
    Sie begann, ihr Leinenhemd zuzuknöpfen. Wie herrlich wäre dieser Tag, wenn
er
käme. Sie ließ die Hände sinken und erlaubte sich, einen Moment sein Bild heraufzubeschwören und von ihm zu träumen. Nein, Joshua würde nicht kommen. Ebensogut hätte sie das Paradies herbeiwünschen können.
    Ein Kleid, wie das, welches sie an diesem Tag anziehen würde, hatte sie nie zuvor besessen. Sie war ihr Leben lang arm gewesen, hatte, solange sie denken konnte, jeden Penny zweimal umdrehen müssen. Die Hoffnung, daß sich alle ihre Opfer eines Tages lohnen würden, hatte ihr die Kraft und die Zuversicht gegeben, dieses armselige Leben auszuhalten. Und nun war dieser Tag gekommen. Die Schneiderin in Canandaigua hatte ein wahres Traumkleid für sie genäht.
    Sie hatten ein zartes Perlgrau gewählt, das mit der Farbe ihrer Augen in Einklang stand, und hatten alle Modejournale nach einem Modell durchgesehen. Schließlich hatten sie sich für eine Kreation Worths entschieden, des derzeit berühmtesten Modeschöpfers, und es beim Zuschnitt so verändert, daß es Samanthas schlanke Anmut voll zur Geltung brachte. Die Turnüre, die in den modisch eleganten Kreisen Europas immer stärker betont wurde, spielten sie etwas herunter; den Rock, den die Damen der Pariser Gesellschaft schockierenderweise inzwischen nur noch knöchellang trugen, hatten sie bodenlang gelassen. Das knapp sitzende Mieder reichte bis zu den Hüften, der füllige Rock darunter war vorn gerafft und hinten über einem Drahtgestell zur Turnüre hochgezogen. Die schmalen Ärmel und der hohe Kragen waren mit gerüschten Valenciennesspitzen besetzt.
    Mit Knopfstiefelchen und einem Federhütchen auf dem hochgesteckten schwarzen Haar komplettierte Samantha ihr elegantes Kostüm. Jetzt brauchte sie nur noch die Handschuhe überzustreifen und zur Tür hinauszugehen.
    Doch sie blieb noch. Sie faltete die Hände, schloß die Augen und sprach leise ein Methodistengebet ihrer Kindheit. Mit flüchtiger Trauer dachte sie an ihren Vater, bedauerte, daß er diesen Tag nicht erleben konnte, und dankte Gott für seinen Beistand auf ihrem Weg zu diesem Tag.
    {9} Ruhiger jetzt, nahm sie die grauen Wildlederhandschuhe und ging zur Tür hinaus.
     
    Professor Jones erwartete sie im Salon. Seit einer halben Stunde marschierte er im Zimmer auf und ab, wie ein aufgeregter Brautvater. Als er endlich Samantha an der offenen Tür stehen sah, strahlte er.
    Sie lächelte. Auch für ihn war dies ein großer und besonderer Tag. Aller Aufmerksamkeit war auf diesen stattlichen Mann mit der rosigen Glatze und den Koteletten gerichtet, der den Konventionen seiner Gesellschaft so mutig getrotzt hatte. Zum erstenmal in der Geschichte der Hochschule hatten sich Vertreter der Presse zur Abschlußfeier angesagt. Der Dekan des Lucerne Medical College war in diesem Moment so nervös, daß er keine Worte fand.
    Samantha erlöste ihn. »Wollen wir gehen, Doktor?« sagte sie.
    Als sie vor das Haus traten, blieb Samantha plötzlich stehen und legte die Hand über die Augen, als wolle sie sie vor der blendenden Sonne schützen. In Wahrheit brauchte sie einen Moment der Besinnung, um sich gegen die neugierigen Blicke der Männer auf der Straße zu wappnen. Aber ihre Geste wirkte durchaus natürlich: Der Canandaigua See jenseits der grünen Hänge über der Main Street lag in gleißendem Licht. Als Samantha die Hand von den Augen zog, sah sie den See und die ihn umgebende Landschaft im Frühlingsglanz vor sich liegen. Lichtgrüne Felder und Weinpflanzungen bedeckten die Hänge der sanft gewellten Hügel, zwischen denen der See eingebettet lag. Einen Moment war Samantha wie verzaubert, dann bemerkte sie die Blicke der Männer, und der Bann war gebrochen.
    Ach,

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