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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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weiß hervortraten. Seit vier Stunden saß er nun schon so, ohne auch nur ein Anzeichen von Ermüdung zu zeigen. Er war so versunken, daß er nicht einmal Mrs. Cadwallader die Treppe herunterkommen hörte.
    »Vater«, flüsterte James, voller Angst beim Anblick des ernsten Gesichts der Hebamme.
    Samuel hatte Mühe, aus seiner Versunkenheit herauszufinden. Langsam kehrte sein Blick aus transzendenten Bereichen zurück und richtete sich auf die Hebamme.
    »Wir schaffen’s nicht, Sir. Das Kind hat Steißlage, noch dazu die schlimmste. Ein Bein unten, das andere oben beim Kopf.«
    »Können Sie das Kind nicht drehen?«
    »In dem Fall nicht, Sir. Da muß ich mit der ganzen Hand rauf, und das schaff’ ich nicht, weil Ihre arme Frau sich so verkrampft. Sie braucht einen richtigen Arzt, Sir.«
    »Nein«, entgegnete Samuel so rasch und entschieden, daß die Hebamme ihn erschreckt ansah. »Ich erlaube nicht, daß ein Mann meine Frau in ihrer Scham sieht.«
    {18} Mrs. Cadwallader fixierte ihn mit scharfem Blick. »Wenn Sie verzeihen, Sir, es ist keine Sünde, Ihre Frau von einem
Arzt
anschauen zu lassen. Das sind anständige Herren, Sir, die interessieren sich überhaupt nicht für so was, wenn Sie verstehen, was ich meine –«
    »Kein Arzt, Mrs. Cadwallader.«
    Die Hebamme warf sich in die Brust. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, Sir, aber zu langem Hin und Her haben wir jetzt keine Zeit. Ihre Frau und das Baby sind in großer Gefahr. Wir müssen uns beeilen, Mr. Hargrave.«
    Samuel stand von seinem Stuhl auf. Seine große Gestalt warf lange Schatten. Matthew und James starrten stumm zu ihm auf. Sein Rükken, seit langem schon gekrümmt von der täglichen Arbeit am Schreibpult auf dem Standesamt, wirkte an diesem Abend noch runder, wie von einer schweren Last gebeugt. Samuel zog ein Taschentuch heraus und tupfte sich die Stirn.
    Mrs. Cadwallader wartete ungeduldig. Sie mochte Samuel Hargrave nicht – kaum jemand mochte ihn; seine strenge Methodistenfrömmigkeit schreckte fast jeden ab. Die Hebamme war nur Felicitys wegen gekommen.
    Samuel sprach, als stünde er auf der Kanzel. »Mrs. Cadwallader, es wäre eine tödliche Demütigung für meine Frau, wenn ein Mann ihr christliches Schamgefühl verletzte. Es ist ebensosehr ihr Wunsch wie der meine –«
    »Dann fragen Sie sie doch jetzt mal, Mr. Hargrave, ob sie nicht einen Arzt haben will!«
    Samuel sandte einen gequälten Blick zur Zimmerdecke und zuckte zusammen, als von oben ein neuerlicher Schmerzensschrei erklang.
    Der neunjährige James starrte mit klopfendem Herzen zu seinem ehrfurchtgebietenden Vater auf, der selbst zu Hause noch den schwarzen Gehrock und das weiße Hemd mit der gestärkten weißen Halsbinde trug. Nie zuvor hatte er seinen Vater unschlüssig gesehen.
    Während die Hebamme einen Schritt näher trat und sich breitbeinig, die Hände in die ausladenden Hüften gestemmt, vor Samuel Hargrave hinstellte, glitt James lautlos und unbemerkt von seinem Stuhl.
    »Sie können’s mir glauben, Mr. Hargrave. Ihre Frau braucht einen Arzt. Ich weiß einen guten, anständigen Mann in der Tottenham Court Road gleich bei der Great Russell Street. Dr. Stone ist ein Ehrenmann, glauben Sie mir. Ich hab’ oft genug gesehen, wie er –«
    »Nein, Mrs. Cadwallader.«
    Während die Hebamme Samuel Hargrave mit mühsam unterdrückter {19} Empörung anstarrte, schlich sich James leise in den dunklen Flur hinaus.
    »Wirklich, Mr. Hargrave, Ihre Frau braucht Hilfe.«
    Samuel senkte den Kopf und funkelte die Hebamme so zornig an, daß diese zurückwich. »Dann würde ich vorschlagen, Mrs. Cadwallader, daß Sie wieder auf Ihren Posten gehen und ihr helfen.« Er wandte sich abrupt ab und zog sich seinen Stuhl heran. »Und ich werde beten.«
    Mrs. Cadwallader stapfte wütend die Treppe wieder hinauf, und Samuel senkte den Kopf über seine gefalteten Hände. Niemand merkte, daß James verschwunden war.
    Als einige Zeit später die Haustür leise geöffnet wurde, und von einem Hauch feuchter Nachtluft begleitet, der kleine James in den Flur schlüpfte, betete Samuel immer noch. James blieb stocksteif stehen und betrachtete ängstlich das schweißnasse, in sich gekehrte Gesicht seines Vaters.
    »Vater«, flüsterte er schließlich.
    Samuel hob die schweren Lider und zwinkerte mehrmals, ehe er den Blick auf das ungewöhnlich bleiche Gesicht seines Sohnes richtete. James keuchte, denn er war den ganzen Weg gerannt.
    »Vater, ich hab’ Hilfe geholt.«
    Samuel zwinkerte wieder. »Was

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