Sturmjahre
Geburtsschmerz ist uns vom Herrn auferlegt. Ihn zu verhindern ist Gotteslästerung, und Ihr Schlafgas, Doktor, ist Machwerk des Teufels. Der Geburtsschmerz ist die Strafe Gottes an der Frau für die Sünde, die sie im Garten Eden begangen hat, und keine gottesfürchtige Frau würde sich dieser gerechten Strafe entziehen, die alle Frauen auf sich genommen haben, seit Eva Adam mit der verbotenen Frucht verlockte.« Er hob einen zitternden Finger himmelwärts. »›Und zum Weibe sprach er: Unter Schmerzen sollst du deine Kinder gebären.‹«
Dr. Stone bemühte sich, seine Ungeduld zu verbergen. Er hatte geglaubt, dieses Argument, das einst wie ein rasendes Feuer London überzogen hatte, sei tot und begraben. Noch vor zehn Jahren hatte es unter den Ärzten heiße Debatten darüber gegeben, ob man das Chloroform bei Entbindungen verwenden dürfe. Eine Zeitlang hatte es ausgesehen, als würde das Alte Testament den Sieg davontragen; dann jedoch hatte John Snow Königin Victoria unter Anwendung von Chloroform von ihrem Sohn Leopold entbunden, und es war ein allgemeiner Sinneswandel eingetreten. Dieser Mann allerdings schien ihn nicht mitgemacht zu haben.
»›Da ließ Gott der Herr‹«, sagte Dr. Stone ruhig, »›einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloß die Stelle mit Fleisch.‹«
»Wie können Sie es wagen, in meinem Haus derartige Gottlosigkeiten zu {22} äußern, Doktor! Jehova zum stümperhaften Chirurgen zu degradieren, der Chlorofom braucht, um einen Menschen in Schlaf zu versenken. Der Vergleich ist absurd. Außerdem vergessen Sie, Doktor, daß die wunderbare Erschaffung der Frau aus Adams Rippe geschah, noch
ehe
Gott den Schmerz in die Welt gebracht hatte; in der Zeit der reinen Unschuld.«
Wieder zerriß ein markerschüttender Schrei aus dem oberen Stockwerk die Stille der Nacht.
»Die Schreie einer Gebärenden«, fuhr Samuel bitterernst fort, »sind Musik in den Ohren des Herrn. Sie erfüllen sein Herz mit Freude. Sie sind die Schreie des Lebens und des christlichen Willens zum Leben. Mein Kind wird nicht in dieses Leben eintreten, während seine Mutter schläft und sich der heiligen Handlung, die sie vollzogen hat, nicht bewußt ist. Damit ist die Sache für mich erledigt, Dr. Stone.«
Neville Stone betrachtete einen Moment lang den Mann, der ihm gegenüberstand, taxierte ihn und kam zu dem Schluß, daß es ihm niemals gelingen würde, die versteinerten Überzeugungen dieses Erzmethodisten ins Wanken zu bringen. »Nun gut«, sagte er darum nur und wandte sich mit brüsker Bewegung zur Treppe.
Was er oben sah, ließ ihn einen Augenblick innehalten: Keuchend vor Erschöpfung und stöhnend vor Schmerz lag die Frau auf dem Bett, der gewölbte Leib in zuckender Bewegung, die Beine blutverschmiert. Hastig zog Dr. Stone seinen Gehrock aus und krempelte die Hemdsärmel auf.
Nachdem er sich zwischen die Beine der Gebärenden aufs Bett gekniet hatte, schob er behutsam zwei Finger in die Vagina und folgte mit ihnen dem Verlauf des dünnen Beinchens, das aus dem Gebärmutterhals herabhing. Nach einer raschen Untersuchung setzte er sich zurück. »Es ist so, wie Sie gesagt haben, Mrs. Cadwallader.«
Neville Stone öffnete sein Köfferchen, nahm die Instrumente heraus und legte sie aufs Bett: die Geburtszange, die dazu vorgesehen war, den Kopf des Kindes zu umfassen; ein lange, gebogene Spritze aus Metall, die er von Mrs. Cadwallader mit Wasser füllen ließ, für den Fall, daß er gezwungen sein sollte, das Kind
in utero
zu taufen; mehrere scharfe Skalpelle falls er – was Gott verhüten möge! – gezwungen sein sollte, einen Kaiserschnitt durchzuführen; und schließlich ein hakenförmiges Instrument, das dazu bestimmt war, den Fötus im Mutterleib zu töten und aus dem Geburtskanal zu entfernen.
Vom keuchenden Atmen der Gebärenden begleitet, arbeitete Neville Stone rasch und konzentriert. Seine Besorgnis und sein Unbehagen vertieften sich. Schon die erste Untersuchung hatte ihm gezeigt, daß das Kind nicht ohne weiteres gedreht werden konnte. Da Samuel Hargrave {23} jedoch die Verwendung von Chloroform ausdrücklich verboten hatte, sah er sich nun vor eine Entscheidung gestellt, vor der er zurückschreckte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Mit einem Kaiserschnitt konnte er das Kind retten, doch die Mutter würde sterben; wollte er die Mutter retten, so mußte er das Kind töten.
Er spürte die ängstliche Besorgnis der dicken Hebamme, die
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