Sturmklänge - Sanderson, B: Sturmklänge - Warbreaker
hatte, die Arbeit würde hart werden. Immer wieder musste sie sich mit Idriern treffen, sie beruhigen und bitten, Hallandren nicht in den Krieg zu treiben. Es gab keine Speiselokale wie bei Denth. Keine Mahlzeiten mit Männern in feiner Kleidung, die von Leibwächtern begleitet wurden, sondern nur eine Gruppe müder Arbeiter und Arbeiterinnen nach der anderen. Viele von ihnen waren nicht rebellisch gestimmt, und eine große Anzahl lebte nicht einmal in den Armenvierteln Aber sie waren ein Teil der idrischen Gemeinschaft in T’Telir und hatten Einfluss auf ihre Freunde und Familien.
Vivenna mochte sie. Sie fühlte mit ihnen. Mit ihren neuen Anstrengungen war sie viel zufriedener als mit dem, was sie und Denth getan hatten, und bisher war Vascher ehrlich zu ihr gewesen, wenn sie es richtig sah. Sie hatte beschlossen, ihrem Instinkt zu vertrauen.
Vascher fragte sie nicht, ob sie weitermachen wollte. Er führte sie einfach von einem Ort zum nächsten und erwartete, dass sie durchhielt. Und das tat sie; sie traf sich mit den Leuten und bat sie immer wieder um Vergebung, wie erschöpft sie auch sein mochte. Sie war sich nicht sicher, ob sie das, was sie angerichtet hatte, wiedergutmachen konnte, aber sie wollte es wenigstens versuchen. Diese Entschlossenheit schien ihr einigen Respekt von Vascher einzubringen. Er zeigte ihn allerdings viel zögerlicher, als Denth es getan hatte.
Denth hat mich die ganze Zeit zum Narren gehalten. Es fiel ihr noch immer schwer, daran zu denken. Ein Teil von ihr wollte es nicht wahrhaben. Sie beugte sich vor und starrte die nackte Mauer vor ihr an. Sie zitterte. Es war gut, dass sie in der letzten Zeit so hart gearbeitet hatte. Das hielt sie vom Denken ab.
Vom Denken an beunruhigende Dinge.
Wer war sie, nachdem alles Vertraute um sie herum zusammengebrochen war? Sie konnte nicht mehr die zuversichtliche Prinzessin Vivenna sein. Diese Person war tot, war zusammen mit Parlins blutigem Leichnam in jenem Keller zurückgeblieben. Ihre Zuversicht war Naivität gewesen.
Jetzt wusste sie, dass Denth mit ihr ein leichtes Spiel gehabt hatte. Sie hatte den Preis der Unwissenheit gezahlt und die bitteren Wahrheiten wirklicher Armut kennengelernt.
Aber sie konnte auch nicht diese Frau sein– die Obdachlose, die Diebin, die geprügelte Bettlerin. Das war sie nicht. Sie hatte den Eindruck, als wären diese Wochen ein Traum gewesen, ausgelöst durch Einsamkeit und den Schock des Verrats, verstärkt durch Krankheit und den Verlust des Hauches. Wenn sie vorgeben wollte, dass das ihr wahres Selbst war, dann würde sie damit diejenigen beleidigen, die wirklich auf der Straße lebten. Die Menschen, unter denen sie sich versteckt und die sie nachzuahmen versucht hatte.
Was also war sie? War sie die bußfertige, stille Prinzessin, die mit gesenktem Haupt niederkniete und die einfachen Leute anflehte? Auch das war zum Teil eine Rolle. Sie verspürte eigentlich kein Bedauern. Aber sie benutzte ihren gebrochenen Stolz als Werkzeug. Das war nicht sie.
Wer war sie?
Sie stand auf, fühlte sich beengt in dem winzigen Raum, öffnete die Tür. Die Nachbarschaft war nicht völlig heruntergekommen, aber sie war auch nicht gerade reich. Es war einfach ein Ort, an dem Menschen lebten. Es gab genug Farben auf der Straße, die einladend wirkten, aber die Gebäude waren klein, und es lebten viele Familien in jedem einzelnen Haus.
Sie ging die Straße entlang und achtete darauf, sich nicht zu weit von dem Zimmer zu entfernen, das Vascher gemietet hatte. Sie kam an Bäumen vorbei und bewunderte ihre Blüten.
Wer war sie in Wirklichkeit? Was blieb übrig, wenn man die Prinzessin und den Hass auf Hallandren beiseitelegte? Sie war entschlossen. Diesen Teil von ihr mochte sie. Sie hatte sich gezwungen, zu der Frau zu werden, die sie werden musste, um den Gottkönig heiraten zu können. Sie hatte hart gearbeitet und ihrem Ziel vieles geopfert.
Sie war auch eine Heuchlerin. Nun wusste sie, was wahre Demut war. Verglichen damit erschien Vivenna ihr früheres Leben dreister und überheblicher als jedes farbenprächtige Hemd.
Sie glaubte an Austre. Sie liebte die Lehren der Fünf Visionen. Demut. Opfer. Die Schwierigkeiten des anderen als die eigenen ansehen. Aber allmählich glaubte sie, dass sie– und viele andere auch– diesen Glauben zu weit getrieben hatte, so dass ihr Verlangen, demütig zu wirken, selbst zu einer Art Stolz geworden war. Nun begriff sie, dass der Glaube eine falsche Richtung eingeschlagen hatte, wenn
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