Sturms Flug
die Dreharbeiten beendet waren, habe ich mich allein auf den Heimweg gemacht. Das war fast genauso aufregend wie die Begegnung mit den Milizen. Ich war mit dem Jeep unterwegs, mit dem Zug, mit einem altertümlichen Propellerflugzeug und sogar ein Stück auf dem Rücken eines Esels. So etwas erlebt kein Pauschaltourist, und selbst für mich, die ich wirklich viel herumgekommen bin, war es ein unvergleichliches Abenteuer.«
Dass sie weit gereist war, bewies die Fotogalerie an der Wand.
»Das letzte Stück«, fuhr sie fort, »habe ich auf einem vergammelten Frachtschiff verbracht, um anschließend mit einer Bimmelbahn nach Kenia weiterzureisen, die den Anschein erweckte, als würde sie jede Sekunde auseinanderfallen. In Kenia habe ich mich eine Woche lang erholt und einen herrlichen Urlaub verlebt, den ich niemals vergessen werde. Das war alles, jetzt bin ich wieder hier, wie du siehst.«
»Sie sollten Ihre Erlebnisse aufschreiben«, schlug er vor. »Besonders die Begegnung mit Asad dem Fischer, der sich die Finger abgehackt hat und Hoheit genannt werden wollte.«
»Bin schon dabei. Das Ganze wird in den nächsten Wochen als Fortsetzungsreportage im Kurier erscheinen.«
Er war beeindruckt. Gedankenverloren ließ er den Blick durch das Wohnzimmer schweifen, der dann abermals an dem Hochzeitsfoto hängen blieb, auf dem sie im Brautkleid zu sehen war. Damals war ihr kastanienfarbenes Haar noch hüftlang gewesen, was ihre Erscheinung in seinen Augen so verdammt verführerisch gemacht hatte. An ihre unerwartete blonde Strubbelfrisur, über die sie nicht reden wollte, konnte er sich nur schwer gewöhnen, auch wenn er zugeben musste, dass sie damit nicht wirklich schlecht aussah. Nicht schlecht, aber vollkommen verändert. Wie ein anderer Mensch.
Als er bemerkte, dass ihr sein Interesse für das Hochzeitsfoto auffiel, machte er eine umfassende Handbewegung, um sie abzulenken. »Was ist das hier?«, fragte er. »Diese unheimliche Bibliothek über all die grässlichen Krankheiten? Warum lesen Sie plötzlich solche Bücher und Magazine? Haben Sie vor, Medizin zu studieren?«
Er lachte, doch sie sog laut die Luft ein. Sofort legte sich wieder die Trauer auf ihre Züge, die sie vorhin, bei der Begrüßung, so tapfer, aber erfolglos zu überspielen versucht hatte. Ihre Augen wurden feucht. »Ach Bodo«, seufzte sie.
Er rutschte unbehaglich auf dem Sofa herum. »Entschuldigung«, murmelte er, ohne eine rechte Vorstellung davon zu haben, was er Falsches gesagt haben könnte.
»Nach meiner Suspendierung«, begann sie unvermittelt, »hatte ich plötzlich viel Freizeit. Zunächst habe ich wie ein Maulwurf in meinem Chrysanthemengarten herumgewühlt, doch als der Winter kam, gab es da nichts mehr zu tun. Deshalb habe ich mir eine andere Beschäftigung gesucht.«
»Als freie Mitarbeiterin beim Kurier , ich weiß.«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Das kam erst später. Nein, vorher habe ich noch etwas anderes getan.«
Er starrte sie wissbegierig an, doch sie senkte den Blick, weil sie sich schämte, in seiner Gegenwart zu weinen, denn eine Träne rann ihr über die Wange. »Ich habe im Hospiz ausgeholfen«, sprach sie weiter.
In einem Hospiz wurden Sterbenskranke betreut, für die es keine Hoffnung mehr gab.
»Im Hospiz ausgeholfen?«, wiederholte er.
»Genau. Dort werden ständig Ehrenamtliche gesucht, die den Patienten Gesellschaft leisten. Es geht dabei nicht um medizinische Versorgung, nur um Beschäftigungstherapie. Ablenkung vom nahen Tod. Man liest ihnen vor, spielt mit ihnen, schaut zusammen fern, unterhält sich. Oder man hört einfach nur zu.«
»Verstehe«, sagte er, obwohl er rein gar nichts verstand.
Sie zeigte auf die Fachzeitschriften und Bücher. »Das hier diente der Vorbereitung. Ich wollte mir einen Überblick verschaffen, wollte begreifen, was in den Menschen vorgeht, die das Ende vor Augen haben. Wie dumm ich war! Als könnte man so etwas nachempfinden, indem man es in Büchern oder Artikeln liest. Jedenfalls gibt es eine Vorschrift, die besagt, dass man als ehrenamtlicher Helfer nicht zu viel Zeit mit ein und demselben Patienten verbringen soll, damit die Bindung nicht zu stark wird. Das macht Sinn, da es um Sterbenskranke geht, bei denen es keine Hoffnung mehr gibt.« Sie schluckte, ihre Stimme wurde zum Flüstern. »Heute ist Sonni gestorben.«
»Sonni?«
Sie schüttelte sich, doch sie zwang sich weiterzusprechen. »Ja, Sonni. Eigentlich Sonja. Sie war dreizehn und hatte Leukämie, aber
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