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Sturms Flug

Sturms Flug

Titel: Sturms Flug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Quandt
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zu lüften, von dem sie gesprochen hatte. Er konnte sich das nicht erklären, zumal sie sich offensichtlich zu ihm hingezogen fühlte. Nun, jedenfalls redete er sich das ein. Wäre es anders gewesen, sagte er sich, hätte sie sich wohl kaum zu der Äußerung hinreißen lassen, dass er ihr guttat. Genau das hatte sie nämlich gesagt: »Du tust mir gut. So wohl habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.«
    Nachdenklich betrachtete er das Badetuch der Lederhaut-Trulla auf dem Nachbarbalkon. Was bedeutete es, jemandem gutzutun? War das ein Synonym für Liebe, oder konnte auch ein Freund dem anderen guttun? Eine Mutter dem Sohn, eine Schwester dem Bruder? Eine Neurochirurgin dem Patienten?
    Er dachte an den einzigen Kuss, den sie ihm gegeben hatte. Das war letzten Montag gewesen, einen Tag vor ihrer Abreise. Oder vor ihrer Flucht, wovor auch immer sie weglief.
    »Morgen reist du ab«, hatte er nach dem Abendessen traurig gesagt.
    Sie hatte gelächelt. »Ja. Dann geht eine schöne Zeit zu Ende. Eine sehr schöne Zeit.«
    Abermals wollte er gegen ihre Geheimnistuerei aufbegehren, an sie appellieren, ihnen eine Chance zu geben, sie bitten, sie anflehen, vor ihr auf die Knie fallen. Und obwohl er spürte, dass sie genauso litt wie er, reichte ein einziger Blick in ihre grünen Augen, um zu erkennen, dass sie schweigen würde. Also schwieg er ebenfalls.
    Da schlang sie unerwartet die Arme um seinen Nacken, reckte sich ein Stück, kam näher, schloss die Augen. In der nächsten Sekunde spürte er ihre Lippen auf den seinen. Ihr Mund blieb geschlossen, nicht der winzigste Spalt tat sich auf, doch der Kuss war trotzdem wundervoll, wie aus Samt und zugleich süß wie Nektar. Als sie sich nach einer Ewigkeit zurückzog, spürte er sein Blut durch die Venen jagen. Er wurde rot im Gesicht, genau wie sie.
    Ihre Worte drangen wie von weit her in sein Bewusstsein. »Wir sehen uns morgen. Ich hoffe, dass du mich zum Flughafen bringst, dann brauche ich nicht mit dem Bus der Reisegesellschaft zu fahren. Einen Mietwagen habe ich bereits besorgt. Abfahrt gegen neun, wenn das okay ist?«
    Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging eiligen Schrittes davon. So eilig, als würde sie vor etwas oder jemandem davonlaufen. Doch nach ein paar Metern blieb sie abrupt stehen, drehte sich noch einmal um. »Es tut mir leid«, hauchte sie mit belegter Stimme. Dann verschwand sie endgültig.
    Am nächsten Morgen, nachdem Bernd über eine Stunde nach ihr gesucht hatte, erfuhr er von der Reiseleiterin, dass ihr Flieger planmäßig abgehoben hatte, um zwanzig nach vier. Der Shuttlebus zum Flughafen habe die Gäste um zwei Uhr eingesammelt, so die Reiseleiterin. Und ja, die Dame mit dem feschen Blondhaar sei ebenfalls dabei gewesen. Und nein, ihren Namen könne sie ihm nicht verraten, denn dazu hätte sie in die Unterlagen schauen müssen, doch die landeten im Schredder, sobald die jeweiligen Gäste abgereist waren, sodass nur noch die Zentrale die entsprechenden Daten hatte.
    Beinahe noch schlimmer als ihr überhasteter Aufbruch war, dass sie keine Nachricht hinterlassen hatte, weder ein handgeschriebenes Zettelchen, das sie ihm unter der Tür durchgeschoben hätte, noch einen Brief, der an der Rezeption für ihn abgegeben worden wäre. Nichts.
    Wenn er an seinen Bruder Lothar dachte – das war der, zu dem er stets ein gutes Verhältnis gehabt hatte, nicht der Polizist –, fiel es ihm schwer, sich sein Gesicht vorzustellen. Obwohl Lothar nie geraucht hatte, war er vor neun Jahren an Lungenkrebs gestorben, im ungerechten Alter von nur siebenundzwanzig Jahren. Sicher, Bernd besaß Fotos von seinem jüngeren Bruder und unauslöschbare Kindheitserinnerungen, doch in denen war das zugehörige Gesicht im Laufe der Jahre verblasst. Er schluckte, denn mit Hanna würde es genauso sein, allerdings viel schneller, da er nur eine gute Woche Zeit gehabt hatte, sich ihr Abbild in die Seele zu brennen. Und ein Foto von ihr besaß er auch nicht, da er seine Kamera zu Hause gelassen hatte. Das tat er stets, seit er allein verreiste, da er sich nicht auch noch zu Hause daran erinnern wollte, dass er sogar im Urlaub einsam war.
    Folglich würde Hanna irgendwann nur noch eine verblassende Erinnerung sein, ein Name mit einem weißen Fleck anstelle eines Gesichts.
    Inzwischen war die Trulla auf den Balkon zurückgekehrt, um sich zu vergewissern, dass nicht ein bösartiger Nachbar ihr Badetuch gestohlen hatte. Sie trug noch immer ihre Lederhaut zur Schau.
    Wieder streifte sie

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