Sturms Flug
ruckte wieder in die Höhe. »Was?«
»Ich will eine Anzeige erstatten«, wiederholte sie. »Mein Auto wurde aufgebrochen. Wenn ich mich nicht irre, ist dafür das KK 74 zuständig. Würden Sie mich bitte hereinlassen, ich kenne den Weg.«
Ihr Gegenüber stand kurz davor, aus der Haut zu fahren. »Hören Sie auf mit dem Unsinn!«, blaffte er. »Noch vor einer halben Minute waren Sie angeblich eine Mitarbeiterin dieses Hauses, die ihren Dienstausweis vergessen hat, und jetzt erzählen Sie mir etwas von einem aufgebrochenen Auto? Was kommt als Nächstes?«
»Ich will den Polizeipräsidenten stürzen«, giftete sie.
Er schüttelte ungehalten den Kopf. »Am besten verschwinden Sie jetzt, sonst rufe ich auf der Wache an, und dann gibt es eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch. Guten Tag!« Die Nase tauchte wieder ab.
Verzweiflung rührte sich in ihrem Inneren. Wie sollte sie mit dem PP fertigwerden, wenn sie nicht einmal an seinem Pförtner vorbeikam? Außerdem gab es da eine weitere Unwägbarkeit, die ihr erst in diesem Augenblick bewusst wurde, nämlich die Frage, wie sie es bewerkstelligen sollte, in den Thronsaal zu gelangen. Nach ihrer Vorstellung hatte der PP einen straffen Terminkalender, der mit Besprechungen auf Direktionsleiterebene gefüllt war. Einfache Beamte wurden von der Vorzimmerdame des hohen Herrn an seinen Stellvertreter verwiesen, um von diesem an dessen Stellvertreter weitergereicht zu werden. Doch für Querulanten wie Tamara Sturm war selbst der nicht zu sprechen, damit musste sie rechnen.
Und noch etwas anderes kam ihr just in dieser Sekunde in den Sinn: Lohmann hatte am Vorabend gesagt, ihr Onkel habe die Rechtsabteilung damit beauftragt, sie aus dem Dienst zu klagen. Demnach fürchtete er sich überhaupt nicht vor einem Prozess, und das machte ihre gesamte Strategie zunichte.
Resigniert ließ sie den Blick durch das Foyer schweifen, über die hohe Decke, die schönen Steine auf dem Boden, das Holz an den Wänden, die Glasfront, die zur Straße zeigte, und über die geschlossene Panzerglastür, die der Pförtner mit einem simplen Knopfdruck hätte öffnen können. Plötzlich kam sie sich vor wie eine Verstoßene, wie ein Fremdkörper, der nicht hierhergehörte und niemals wieder hierhergehören würde. Die bittere Erkenntnis, keine Polizistin mehr zu sein, war mit einem Mal leibhaftig wie nie und drohte ihr die Kehle zuzuschnüren. Dabei hatte sie am ersten September ihr zwanzigjähriges Dienstjubiläum gefeiert, doch nicht während des Festakts, an dem die anderen Jubilare teilgenommen hatten, sondern allein mit einem Straßenköter irgendwo in Afrika. Wenn sie doch wenigstens Bernd wiedersehen könnte.
Sie wollte sich gerade abwenden, um zu Hause ins Kissen zu heulen, als eine Stimme an ihr Ohr drang, die ihr sehr vertraut war.
»Das gibt’s ja nicht!«, rief jemand in ihrem Rücken. »Die verlorene Tochter ist zurückgekehrt!«
Sie fuhr herum und stand vor dem Ersten Kriminalhauptkommissar ( EKHK ) Ernst Wolf, der in seiner Eigenschaft als Leiter des KK 21 ihr direkter Vorgesetzter war. Er war soeben von draußen hereingekommen, trug einen Regenmantel und war darunter so untadelig gekleidet wie eh und je. Der anthrazitfarbene Maßanzug stammte wahrscheinlich von einem italienischen Schneider, die Schuhe waren handgenäht. Der Zwirbelschnurrbart, den er an diesem Morgen einer akribischen Wachsbehandlung unterzogen hatte, setzte seiner Erscheinung das i-Tüpfelchen auf.
»Interessante Frisur«, stellte er lapidar fest. »Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt.« Der Austausch von Höflichkeiten oder gar Komplimenten gehörte nicht zu seinen Stärken. »Im Übrigen kommst du wie gerufen, wir haben nämlich alle Hände voll zu tun und viel zu wenig Personal. Ich hoffe, du kannst sofort loslegen.«
Mara mochte ihn nicht, und er mochte sie noch weniger, und beide machten kein Hehl aus ihrer Antipathie. Dennoch waren sie in der Vergangenheit erstaunlich gut miteinander ausgekommen, da sie die Fähigkeiten des jeweils anderen durchaus zu schätzen wussten.
Er zögerte, schaute sie mit schräg gelegtem Kopf an. »Wo, zur Hölle, hast du eigentlich so lange gesteckt? Weswegen hat man dich abgeordnet?«
Ihre rechte Braue ruckte in die Höhe. »Habe ich mich gerade verhört, oder sagtest du tatsächlich abgeordnet ?«
Eine Abordnung war ein Instrument des Dienstrechts, das die Möglichkeit schaffte, einen Beamten im Bedarfsfall vorübergehend in einer anderen Behörde tätig werden zu
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