Sturmsegel
Suppe überlassen können, aber das brachte sie nun nicht mehr übers Herz. Irgendwie war das Huhn zu einem Haustier für sie geworden.
»Hast du alles?«, fragte Roland Martens, als sie zu ihm trat.
Anneke nickte.
»Gut, dann lass uns gehen.«
Anneke folgte dem Kaufmann zur Kutsche. Zwei prachtvolle braune Pferde zogen das Gefährt, auf dessen Kutschbock ein Mann im dunklen Mantel saß. Es bot einen ungewohnten Anblick in dieser Gegend, denn die meisten Bürger waren in Sänften unterwegs und alle, die sich keine Sänftenträger leisten konnten, gingen zu Fuß.
Natürlich weckte die Kutsche auch Magda Fehrmanns Neugier. »Guten Morgen, Anneke, wohin geht es denn?«, fragte sie, als sie vor die Tür trat. Die Wasserflecke auf ihrer Schürze verrieten, dass sie gerade beim Waschen war.
Roland Martens grüßte die Nachbarin freundlich. »Ich hole meine Tochter zu mir!«
Magda klappte vor Staunen die Kinnlade herunter und sie war unfähig, irgendwas zu sagen. Auch sie hatte nicht gewusst, dass Annekes Vater noch lebte und ein angesehener Kaufmann war.
»Alles Gute!«, rief Anneke ihr zu und stieg dann ein.
Die Kutsche des Kaufmanns war sehr geräumig. Anneke setzte sich auf die lederbezogene Sitzbank und legte das Bündel neben sich ab. Der Hühnerkäfig kam auf den Boden. Dort und auf dem Sitz gegenüber entdeckte sie einige verschnürte Päckchen. Offenbar war das Ware, die ihr Vater entweder eingekauft hatte oder ausliefern wollte.
»Ich hatte damit gerechnet, dass du mehr Gepäck hast«, bemerkte der Kaufmann, als er sich neben sie setzte.
Anneke schüttelte den Kopf und klopfte auf das Bündel. Die Henne im Käfig zu ihren Füßen gackerte kurz auf. »Ich habe alles, was ich brauche. Und die anderen Sachen können in der Hütte bleiben, die kann ich doch behalten, oder?«
»Das wirst du, dafür sorge ich«, versprach Martens und gab dem Kutscher dann ein Zeichen, dass sie abfahren konnten.
*
Tatsächlich waren all die Päckchen für Kunden ihres Vaters bestimmt. Während sie durch die Stadt fuhren, machten sie hier und da halt und der Kutscher überbrachte sie.
Einige der Leute warfen kurz einen Blick auf Anneke, manche fragten, wer das kleine Fräulein sei.
»Meine Tochter«, erklärte Roland Martens dann stolz.
Am Kaufmannshaus in der Heilgeiststraße machte die Kutsche erneut halt. Das Gebäude war recht groß, ein riesiges Tor führte in den Innenhof. Da beide Torflügel offen standen, konnte man hineinblicken. Die Fachwerkmauern wurden von blank geputzten Glasfenstern durchbrochen, ein Luxus, den sich in Stralsund nur wenige leisten konnten.
In der Vergangenheit war Anneke oft an diesem Haus vorübergegangen, aus dem zuweilen ein wunderbarer Duft nach Gewürzen und Blumen drang. Doch nie hatte sie darauf geachtet, was im Inneren vor sich gegangen war. Ihre Einkäufe erledigte ihre Mutter immer auf dem Marktplatz. Für die Waren, die Roland Martens anzubieten hatte, hätten sie ohnehin kein Geld gehabt.
Wenn ich doch nur gewusst hätte, dass mein Vater hier lebt, ging es ihr durch den Sinn. Dann fiel ihr aber wieder ein, dass es besser gewesen war, dass sie es nicht wusste. Wenn ihre Mutter schon seine Hilfe ausgeschlagen hatte, hätte sie gewiss auch nicht erlaubt, dass sie ihn kennenlernte.
»Wir sind da«, erklärte Roland Martens überflüssigerweise und öffnete die Tür des Kutschenschlages. Erneut stieß das Huhn ein lautes Gackern aus.
»Sei lieber still«, riet Anneke ihm im Flüsterton, als sie nach dem Holzkäfig griff. »Wenn dich die Köchin hört, wird sie dich in den Topf stecken.«
Roland Martens, der diesen Ratschlag mitgehört hatte, lachte auf. »Deinem Huhn wird nichts geschehen. Nettel würde sich zwar über dieses schöne Huhn freuen, aber wenn du es gern hast, wird ihm niemand etwas zuleide tun.«
Nachdem sie aus der Kutsche gestiegen waren, durchquerten sie das Tor und betraten den Hof. Er war gepflastert und in der Mitte stand ein Brunnen. Ranken, die das erste zarte Grün ausbildeten, kletterten an den grob behauenen Steinen empor.
Neben dem Stallgebäude, das ebenso ordentlich war wie das Wohnhaus, gab es einen kleinen Hühnerhof. Gackernd stoben die Hennen und ihr bunt schillernder Hahn zur Seite, als Anneke und ihr Vater über die Pflastersteine schritten.
»Wenn du willst, kannst du dein Huhn gern hier freilassen, wo es Kameraden hat«, schlug der Kaufmann vor und deutete auf die Hühnermeute. Alle Hennen hatten rote Federn, ihr Huhn würde dazwischen wie
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