Sturmsegel
gegen den Laden.
Noch nie hatte sie ihre Freundin auf diese Weise aus dem Bett zu holen versucht. Früher hatten sie sich ja immer am Strand getroffen und dort Neuigkeiten ausgetauscht. Bisher hatte es allerdings keinen so dringenden Grund gegeben wie jetzt.
Als sie ihre Wurfgeschosse verbraucht hatte, trat sie ein paar Schritte zurück und wartete.
Hufschlag donnerte in der Ferne übers Pflaster. Ein paar Hunde bellten den Reiter an.
Plötzlich knarrte es über ihr. Als sie aufblickte, sah sie Marte am Fenster stehen. Verschlafen rieb diese sich die Augen.
»Anneke?« Ihre Stimme verhallte in den Tiefen der Gasse.
»Ja, ich bin's. Komm runter, wenn du kannst, ich muss dir was Wichtiges erzählen.«
Marte schloss den Fensterladen und wenig später kam sie aus der Seitentür des Hauses.
»Was gibt es denn?«, fragte sie und raffte ihr Schultertuch vor der Brust zusammen. Sie hatte es sich schnell über das Nachthemd geworfen. »Ist etwas passiert?«
»Stell dir vor, ein Mann ist bei mir aufgetaucht, der behauptet, mein Vater zu sein«, antwortete Anneke und sah, wie ihre Freundin verwundert die Augenbrauen hochzog.
»Dein Vater? Du hast doch mal erzählt, dass er gestorben sei.«
»Ja, es ist kaum zu glauben«, entgegnete Anneke. »Es ist der Kaufmann Martens. Er will mich bei sich aufnehmen.«
Marte zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Roland Martens?«
Anneke nickte. »Kurz nach der Beerdigung kam er zu unserer Hütte. Er war der seltsame Mann vom Friedhof.«
»Das gibt's doch nicht!«
»Er erzählte mir, dass er meine Mutter geliebt habe und dass ich sein Kind sei. Jetzt, wo sie tot ist, will er die Verantwortung für mich übernehmen.«
Ihre Freundin schüttelte fassungslos den Kopf. Als hinter ihnen etwas raschelte, wirbelte Anneke herum, erblickte aber nur eine Katze, die sich auf die Jagd begab.
»Bist du dir sicher, dass er dein Vater ist?«, fragte Marte nach kurzem Überlegen.
Anneke zuckte mit den Schultern. »Natürlich bin ich mir nicht sicher, aber warum sollte er mich anlügen und sich ein weiteres hungriges Maul ins Haus holen?«
Darauf wusste Marte nichts zu sagen.
»Also, was rätst du mir? Soll ich zu ihm gehen?«
»Wenn er wirklich dein Vater ist, spricht doch nichts dagegen. Aber vielleicht solltest du dich ein wenig umhören.«
»Glaubst du wirklich, irgendwer weiß etwas über das Verhältnis zwischen ihm und meiner Mutter?« Anneke schüttelte ungläubig den Kopf. Ihr Herz krampfte sich vor Verlangen zusammen, noch ein einziges Mal mit ihrer Mutter zu reden. »Sie wollten es doch geheim halten! Und meine Mutter war sehr gut im Bewahren von Geheimnissen. Nicht mal mir hat sie etwas über Martens anvertraut! Dabei wäre ich diejenige gewesen, die es hätte wissen sollen.«
»Du warst das Geheimnis!«, stellte Marte augenzwinkernd fest. »Wann will er dich denn abholen kommen?«
»Schon morgen.«
Marte strich sich nachdenklich übers Kinn. »Nun, bei einem Kaufmann triffst du es nicht schlecht. Außerdem glaube ich nicht, dass ein Mann ein Kind sein eigenes nennen würde, wenn er sich nicht sicher ist. Jeder Mensch braucht einen Platz im Leben und vielleicht soll deiner ab sofort im Kontor sein.«
Anneke hatte sich bislang keine Gedanken darum machen müssen, wo ihr Platz war. Aber Martes Worte klangen einleuchtend.
»Ich kann mich aber ein wenig für dich umhören, wenn du möchtest«, setzte ihre Freundin hinzu.
»Und was willst du in Erfahrung bringen?«
»Was Roland Martens für ein Mensch ist. Sollte ich Schlechtes hören, werde ich dich persönlich aus seinem Haus holen!«
Damit umarmten sich die beiden Freundinnen erneut. »Danke«, flüsterte Anneke ihr ins Ohr. »Ich bin so froh, dass ich dich habe.«
»Ich bin immer für dich da, das weißt du ja.« Marte drückte ihr noch einen Kuss auf die Wange.
»Jetzt muss ich wieder rein«, sagte sie, als sie sich voneinander lösten. »Meine Schwester hat manchmal einen ziemlich leichten Schlaf. Wenn sie merkt, dass der Platz neben ihr kalt wird, erwacht sie und wird sicher nachschauen, wo ich abbleibe.«
»Ist schon gut«, entgegnete Anneke lächelnd. »Du hast mir sehr geholfen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Anneke, und lass dich unterwegs nicht vom Nachtwächter erwischen.«
»Keine Sorge, der kriegt mich nicht.«
Anneke winkte ihrer Freundin zu, dann kehrte sie dem Haus den Rücken und huschte zurück ins Marienviertel.
Als sie wenig später wieder unter ihre Bettdecke schlüpfte, fasste Anneke den
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