Sturmsegel
unangenehmes Schweigen schob sich für einen Moment zwischen Anneke und den Kaufmann. Das Mädchen versuchte an seinen Gesichtszügen abzulesen, was er gerade dachte.
Bereut er es jetzt, mich abgeholt zu haben?
»Er mag mich nicht, stimmt's?«, fragte Anneke und brach damit das Schweigen.
Roland Martens legte ihr die Hände auf die Schultern und blickte ihr direkt in die Augen.
»Es ist alles ein bisschen viel für ihn im Moment. Er vermisst seinen Bruder. Sönke dient im Heer des Schwedenkönigs und niemand weiß, wie es ihm ergeht. Tag für Tag wartet er auf eine Nachricht von ihm.«
Die Miene ihres Vaters bei diesen Worten verriet ihr, dass auch er sehnsüchtig auf Nachricht von seinem ältesten Sohn wartete. Oftmals erfuhren Familien gar nicht, ob ihre Söhne und Männer noch am Leben waren. Entweder sie kehrten zurück oder sie blieben auf ewig fern. Die Angehörigen mussten mit der Angst um sie zurechtkommen.
»Außerdem habe ich ihm bis zum Todestag deiner Mutter nicht erzählt, dass er noch eine Schwester hat«, fügte der Kaufmann hinzu. »Als ich beschloss, dich zu mir zu holen, habe ich es einfach getan, und er war wütend darüber. Wie du vielleicht auch im ersten Moment. Aber du sollst nicht glauben, dass du nicht willkommen wärst. Hinrich wird sich schon an dich gewöhnen. Vielleicht mag er dich auch irgendwann. Im Moment ist er einfach nur ein bisschen durcheinander.«
Das bin ich auch, dachte Anneke. Trotzdem hätte ich Hinrich nicht beschimpft. Selbst wenn er in das Haus meiner Mutter gekommen wäre.
»Lass uns hineingehen«, schlug Roland Martens schließlich vor. »Das Kontor zeige ich dir später, jetzt solltest du erst einmal sehen, wo du ab sofort wohnen wirst.«
Sie traten durch den Hintereingang und angesichts der riesigen Küche blieb Anneke der Mund offen stehen. Der Boden war mit großen, blank geschrubbten Steinplatten ausgelegt. Auf der linken Seite flackerte ein munteres Feuer in einem riesigen offenen Herd, die Flammen leckten über den Boden eines geschwärzten Kessels, der von einem Haken herabhing. Der Geruch von Grütze mit Milch stieg Anneke in die Nase.
In der Mitte des Raumes befand sich ein langer hölzerner Tisch, auf dem Gemüse gestapelt war. Auch zwei gerupfte Hühner entdeckte Anneke.
Das Geräusch ihrer Schritte ließ die Köchin herumwirbeln. Sie war eine rundliche Frau mit roten Wangen und einer blauen Haube auf dem dunklen Haar. Über ihrem grauen Kleid hing eine Schürze, die mit etlichen Flecken unterschiedlichster Art verunziert war.
»Nettel, wie ich sehe, bist du fleißig«, bemerkte Roland Martens gütig.
Die Köchin setzte einen geschmeichelten Gesichtsausdruck auf und musterte Anneke dann von Kopf bis Fuß. Sonderlich überrascht wirkte sie über die Anwesenheit des Mädchens nicht. Aber Anneke konnte glücklicherweise auch keine Ablehnung erkennen.
Martens legte seiner Tochter die Hände auf die Schultern. »Das ist Anneke, von der ich dir erzählt habe. Sie wird ab sofort bei uns wohnen.«
Nettel nickte wissend, dann wischte sie sich die Hände an ihrer Schürze ab und kam zu ihr.
»Bist ja ziemlich mager, Kind«, stellte sie lächelnd fest. »Aber das wird sich ändern, wenn du erst mal meine Speisen gekostet hast.«
Anneke wollte eigentlich gar nicht mehr Speck auf den Rippen haben. Schlank, wie sie war, konnte sie rennen, ohne aus der Puste zu kommen, und sie schaffte es auch, sich durch schmale Lücken zu zwängen und problemlos auf Bäume zu klettern.
Aber der Köchin zuliebe lächelte sie.
»Was ist mit dem Huhn?«, fragte Nettel nun und deutete auf den Käfig. »Soll sich das zu den anderen da gesellen?«
»Nein«, entgegnete Anneke und umklammerte den Käfig fester. Sie hatte es so verstanden, dass die Köchin die gerupften Hühner auf dem Tisch meinte. »Ich will nicht, dass es geschlachtet wird.«
»Ich meinte auch nicht schlachten«, gab die Köchin lachend zurück. »Wie du sicher gesehen hast, haben wir auch Hühner auf dem Hof laufen.«
»Ich möchte es trotzdem erst mal bei mir behalten«, beharrte Anneke.
»Gut, wie du willst. Wenn du es dir anders überlegst, setz es einfach draußen auf dem Hof aus. Glaub mir, der Käfig bekommt einem Huhn nicht. Es mag darin vielleicht sicher vor dem Habicht sein, aber glücklich ist es ganz gewiss nicht.«
Daran war etwas Wahres, aber dennoch hatte Anneke das Gefühl, das Huhn irgendwie schützen zu müssen. Vor den anderen Hühnern oder dem Habicht beispielsweise.
Der Kaufmann
Weitere Kostenlose Bücher