Sturmsegel
führte sie nun durchs Haus, zeigte ihr die Stube, in der sich abends alle zusammenfanden, und sein Studierzimmer. Darin standen ein hohes Buchregal und ein Schreibpult, an den Wänden hingen kleine Gemälde, die fremde Landschaften zeigten. Hatte ihr Vater diese Orte früher einmal bereist? Anneke nahm sich vor, ihn bei Gelegenheit danach zu fragen.
Jetzt ging es aber erst einmal die Treppe hinauf ins erste Stockwerk. Dort befanden sich die Kammern der beiden Kaufmannssöhne, außerdem noch zwei weitere Räume, wie sie an den Türen erkennen konnte.
»Du bekommst erst einmal die Kammer von Sönke«, kündigte ihr Vater an. »Wenn er aus dem Krieg zurückkehrt, werden wir ein anderes Quartier für dich finden.«
Kaum hatte er das gesagt, öffnete sich die Tür neben der Kammer und eine Frau trat heraus. Sie war Mitte zwanzig und recht hübsch. Ihr haselnussbraunes Haar war halb unter einer mit Spitzen und Stickereien verzierten Haube verborgen, ein paar Löckchen kringelten sich um ihre sommersprossigen Wangen. Ihre Nase war schmal und ihre Augen grün wie die einer Katze.
Sie trug ein lindgrünes Kleid mit einer schneeweißen Schürze darüber. Ihre Schultern wurden von einem zarten weißen Schultertuch bedeckt, das mit Spitze gesäumt war. In diesem Aufzug hätte man sie für die Ehefrau oder zumindest die älteste Tochter des Kaufmanns halten können.
»Ah, da seid Ihr ja, Sanne!«, sagte der Kaufmann und stellte das Mädchen vor. »Das ist Anneke, meine Tochter. – Anneke, das ist Sanne Peters, die Kinderfrau. Sie hat deine Brüder nach dem Tod ihrer Mutter in ihrer Obhut gehabt und wird dir helfen, dich hier einzugewöhnen.«
Anneke wusste zunächst nicht, was sie jetzt tun sollte, dann entschied sie sich für einen Knicks. Das war offenbar richtig, denn die Kinderfrau lächelte sie freundlich an.
»Wie ich sehe, ist Eure Tochter wohl geraten«, sagte sie zu ihrem Dienstherrn.
»Und unter Euren Fittichen wird sie gewiss eine richtige Dame.«
Die Kinderfrau errötete und senkte den Kopf. »Ich werde mich auf jeden Fall bemühen.«
Während Anneke sich noch fragte, was sie tun musste, eine Dame zu werden, öffnete ihr Vater die Tür zu ihrer Kammer. Sanne lächelte ihr noch einmal zu, dann huschte sie nach unten. Nicht nur ihre Augen, auch ihr Gang war mit dem einer Katze zu vergleichen, denn ihre Schritte waren kaum zu vernehmen. Anneke trampelte zwar auch nicht wie ein Ochse durch ein Haus, aber so leise konnte sie nicht schleichen.
Annekes neues Quartier unterschied sich stark von der alten Hütte. Der Raum war hell durch das hohe Fenster, von dem aus sie nicht nur die Straße, sondern auch einen Teil der Stadt überschauen konnte. Es gab ein schmales Bett, eine Wäschetruhe und ein Schreibpult, das unter dem Fenster stand. Der Stuhl davor war ein wenig schief und wohl schon einige Male repariert worden. Auf einem dreibeinigen Gestell standen eine Waschschüssel und ein dazu passender Krug.
Persönliche Gegenstände ihres älteren Halbbruders suchte sie hier allerdings vergeblich. Entweder hatte er die Kleinigkeiten, die ihm lieb waren, mitgenommen oder Martens hatte sie weggeräumt, damit Platz für Annekes Sachen war.
»Richte dich ein, wie es dir beliebt«, sagte der Kaufmann. »Ich gebe Sanne Bescheid, damit sie dich gleich neu einkleidet.«
Anneke hätte beinahe gesagt, dass das nicht nötig sei, aber wenn sie ehrlich war, hätte sie gern so ein Kleid getragen wie die Kinderfrau.
»Vielen Dank«, entgegnete sie, worauf der Kaufmann erwiderte: »Das ist das Mindeste, was ich für dich tun kann. Ich hoffe, du lebst dich in meinem Haus schon bald ein.«
Damit wandte er sich um und verließ das Gemach.
Nachdem sie noch einen Blick durch den Raum geworfen hatte, stellte sie den Hühnerkäfig auf den Tisch vor dem Fenster, dann setzte sie sich aufs Bett.
Wenig später erschien Sanne, in der Hand hielt sie einen Milchkrug.
»Wollen wir?«, fragte sie fröhlich und bedeutete Anneke, ihr in ihre Kammer zu folgen.
Sie war doppelt so groß wie Annekes und diente der Kinderfrau offenbar nicht nur als Schlafplatz, sondern auch als Unterrichtsraum.
Der schwere braune Samtvorhang des Himmelbetts war zugezogen. Ihm gegenüber standen ein großer runder Tisch und ein goldgerahmter Spiegel. Den Fußboden bedeckte ein Teppich, wie Anneke bisher keinen zu Gesicht bekommen hatte.
Die Möblierung war viel zu fein für eine Bedienstete, offenbar waren dies einst die Räumlichkeiten der Hausherrin
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